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You shall not pass – Die CoronaWarnApp als Einlassticket? (Teil 1)

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von FLORIAN ZUMKELLER-QUAST

Darf von potenziellen Kund*innen verlangt werden, dass diese die aktive Nutzung der CoronaWarnApp des Bundes belegen? Diese Frage beschäftigt den digitalaffinen juristischen Diskurs schon länger als es die App konkret überhaupt gibt. Das Bayerische Landesamt für Datenschutzaufsicht (BayLDA) ist der Ansicht, dass dies unzulässig sei. Eine ausführliche Begründung veröffentlicht es allerdings nicht. Grund genug, sich die rechtliche Lage näher anzusehen.

In Ihren FAQ stellt das BayLDA klar: Nach ihrer Auffassung ist eine solche Einlasskontrolle auf Basis des Vorzeigens der CoronaWarnApp rechtswidrig. Denn die Einwilligung des*der Nutzer*in gegenüber dem RKI zum Betrieb der App selbst decke diese Nutzung nicht. Vielmehr sei nun der*die Betreiber*in des Geschäftes datenschutzrechtlich Verantwortlicher, verstoße aber mangels Rechtsgrundlage gegen die DSGVO.

Mit dieser Ansicht steht das BayLDA nicht alleine da. Allerdings ist diese Ansicht auch alles andere als unumstritten. Anlass genug, sich mit der Frage zu beschäftigen: Verbietet das Datenschutzrecht derartige Einlasskontrollen?

Dies könnte nach Art. 5 Abs. 1 lit. a, Art. 6 Abs. 1 Satz 1 DSGVO der Fall sein: Danach ist eine Verarbeitung personenbezogener Daten nur erlaubt, wenn eine der in Art. 6 Abs. 1 DSGVO aufgelisteten Rechtsgrundlagen gegeben ist. Zweifellos handelt es sich bei der Information, dass ein*e Smartphonenutzer*in die App installiert hat und in den letzten X Tagen aktiv genutzt hat, um auf diese*n Nutzer*in personenbezogene Daten. Mit dem Ablesen vor Einlass findet auch eine Verarbeitung in Form des Erhebens dieser Daten im Sinne von Art. 4 Nr. 2 DSGVO statt: Schließlich werden die dargebotenen Daten erfasst und gerade aufgrund dieser erfassten Informationen das weitere Vorgehen entschieden.

Anwendbarkeit der DSGVO?

Deutlich problematischer ist ein anderer Punkt: Die Anwendbarkeit der DSGVO. Denn diese ist nicht auf jede Verarbeitung personenbezogener Daten anwendbar. Sie ist gerade kein generelles Regulierungsrecht potenziell unerwünschter Vorgänge im Bereich der Digitalisierung. Vielmehr ist sie nach ihrem Art. 2 Abs. 1 nur für ganz oder teilweise automatisierte Verarbeitungen oder solche Verarbeitungen, die in einem Dateisystem gespeichert sind oder gespeichert werden sollen, anwendbar.

Offensichtlich liegt eine ganz automatisierte Verarbeitung beim manuellen Ablesen vom Bildschirm eines Smartphones nicht vor. Anders könnte es schon für eine teilweise automatisierte Verarbeitung aussehen. Eine Verarbeitung ist nach Art. 4 Nr. 2 schließlich jeder mit oder ohne Hilfe automatisierter Verfahren ausgeführte Vorgang oder Vorgangsreihe im Zusammenhang mit personenbezogenen Daten. Die Dashboardanzeige der App ist jedenfalls ein automatisiertes Verfahren. Mach das menschliche Ablesen dieser ebendiesen Gesamtvorgang zu einer teilautomatisierten Verarbeitung?

Teilautomatisierte Verarbeitung durch Ablesen vom Bildschirm?

Fernliegend wäre dies jedenfalls nicht: Das Vorzeigen des aktivierten Smartphone-Bildschirms sowie das Ablesen der dargestellten Informationen von ebendiesem stellen jedenfalls eine Vorgangsreihe dar. Hier zwischen App, für die das RKI verantwortlich sein soll, und dem Ablesen zu trennen ignoriert, dass das Ablesen nur aufgrund des aktivierten Smartphonedisplays möglich ist. Zudem spricht datenschutzrechtlich nichts dagegen, die Anzeige einerseits als Teil der gänzlich automatisierten Verarbeitung unter Verantwortung des RKI zu sehen und zudem gleichzeitig als Teil eines anderen, getrennten Vorgangs, zu sehen.

Betrachtet man die Anzeige nicht separat als Teil beider Vorgänge, gibt es lediglich zwei Möglichkeiten: Entweder ergäbe sich entweder die Situation, dass die automatisiert erzeugte Anzeige von Informationen keine Rolle für einen Vorgang spielen würde während das nichtautomatisierte Ablesen aus einem Dateisystem relevant wäre und den Anwendungsbereich der DSGVO eröffnen würde. Oder man rechnet, wie Siedenburg, die der Verwendung der automatisierten Anzeige gegenüber Dritten weiter nur dem Anzeigesystembetreiber zu. Damit würde aber ein Dritter, der auf den konkreten Vorgang keinen tatsächlichen Einfluss hat, von den rechtlichen Auswirkungen getroffen. Überzeugender ist daher die separate Betrachtung der Anzeige als Teil beider Vorgänge.

Zudem sprechen auch teleologische Wertungen für dieses Ergebnis: In einem parallelen Fall, in dem eine solche Anzeige sensiblere Daten wie etwa einen tatsächlichen Krankheitsverlauf offenbaren würden, würden wohl die meisten intuitiv diese Subsumtion bejahen. Denn unabhängig davon, ob man das Schutzziel des Datenschutzrechts als „Schutz aller persönlichen Freiheiten und Grundrechte“, als informationelle Selbstbestimmung, als allgemeiner Schutz der Privatsphäre oder als Grundrecht auf den Erlass von Gesetzen zum effektiven Schutz personenbezogener Daten sieht, wäre es in allen Fällen diesem Ziel stark abträglich, den Schutz auf das parallele Beispiel nicht zu übertragen. Dann muss dies aber auch schon für die als geringer invasiv qualifizierten Informationen gelten. Denn personenbezogen sind auch diese.

Letztlich fügt sich die Einbeziehung des automatisierten Teilvorgangs der App-Anzeige in einen Gesamtvorgang der Einlasskontrolle sich auch gut in die Rechtsprechung des EuGH ein: Der EuGH fasst den Anwendungsbereich des Datenschutzrechts zum effektiven Schutz des Grundrechts aus Art. 16 Abs. 1 AEUV, Art. 8 GrCh tendenziell weit und bezieht etwaige entgegenstehende Rechte und Rechtsgüter im Rahmen der weiteren Auslegung oder einer Abwägung ein. Daher sprechen die besseren Argumente dafür, eine teilautomatisierte Verarbeitung zu bejahen.

Abgrenzbare Orte als Dateisystem?

Täte man dies allerdings nicht, müsste eine der Varianten der nichtautomatisierten Verarbeitung erfüllt sein. Bock hält die Speicherung in einem Dateisystem für einschlägig. Sie sieht das Innere des Geschäftsraums als strukturierten Datencontainer. Über alle dort Anwesenden sei schließlich die Information bekannt, dass diese Personen die App installiert haben. Auch wenn der Begriff der Speicherung in einem Dateisystem mit Sicherheit weit zu verstehen ist (wie ich schon im Rahmen der Klingelschilder-Debatte hier dargelegt habe), scheint ein derartiges Verständnis doch über die Grenzen des Begriffes zu gehen. Zwar sind die Anforderungen an die Strukturierung möglicherweise erfüllt, den bloßen Aufenthalt von Einzelpersonen an einem geografischen Ort als Speicherung zu deuten, dürfte allerdings zu weit gehen und den Anwendungsbereich der DSGVO zu stark ausdehnen.

Zudem würde dann jede Einlasskontrolle zur nichtautomatisierten Datenverarbeitung. Die so strukturierten Menschengruppen, etwa nach Alter oder Besitz eines Tickets für eine Veranstaltung, wären dann in einem Dateisystem gespeicherte Daten. Dies hätte die Folge, dass auch Dritte bei Betrachtung der Personen im Raum die entsprechenden Informationen erheben würden. Denn wenn schon die mit Blick auf den Rauminhalt gewinnbaren Informationen als im Dateisystem gespeichert gelten sollen, muss umgekehrt der Blick auf ebendiesen Raum auch als Auslesen und Erheben der dort gespeicherten Informationen gelten. Die Dritten wären dann, sofern Sie sich nicht auf eine der Ausnahmen nach Art. 2 Abs. 2 berufen können, auch vollständig der DSGVO unterworfen. Diese so dann vorgenommene Verarbeitung wäre ggf. rechtswidrig, in jedem Fall unterlägen diese Dritten aber den datenschutzrechtlichen Informationspflichten nach Artt. 13, 14 DSGVO . Eine derartig weiter Anwendungsbereich wäre nicht mehr handhabbar und kann vom Gesetzgeber nicht gewollt sein.

Keine Speicherung durch Anwesenheitslisten

Die Variante der geplanten Speicherung in einem Dateisystem ist daher nicht einschlägig, solange keine sonstige Speicherung, etwa im Rahmen einer Anwesenheitsliste erfolgt. Besonders in der Gastronomie, die derzeit zumindest teilweise zur Erhebung von Informationen über die Besucher verpflichtet sind (vgl. etwa § 2 Abs. 3 CoronaVO Gaststätten Baden-Württemberg), läge daher die Annahme nahe, dass die Information über die Installation der App in einem Dateisystem gespeichert wird. Allein schon wegen der Löschungspflicht werden diese Zettel nach Besuchsdatum strukturiert abgelegt werden. Allerdings ergibt sich die Information der App-Installation erst wieder aus dem Rückschluss über die Kenntnis des Faktes der Einlasskontrolle. Die DSGVO reguliert aber nur direkt gespeicherte Informationen, nicht auch noch daraus erschließbare Informationen. Daher ist durch die Anwesenheitslisten keine Speicherung gegeben.

Ebenso ergibt sich eine Speicherung der Information auch nicht etwa aus einer Kartenzahlung. Die Kartenzahlung als zusätzliche, von der Einlasskontrolle unabhängige Entscheidung des*der Kund*in, kann dabei schwerlich als ein zusammenhängender (dann aber teilautomatisierter) Vorgang gesehen werden. Es bliebe theoretisch noch die Variante der bereits in einem Dateisystem gespeicherten Daten. Das Dateisystem des Smartphones kommt dabei allerdings nicht in Betracht, denn dann wäre dies eine teilautomatisierten Verarbeitung. Die geordnete Bildschirmanzeige wird allerdings wohl kaum als für die „Speicherung in einem Dateisystem“ genügen, sodass keine der nichtautomatisierten Varianten einschlägig wäre.

Wie die verschiedenen im Diskurs befindlichen Schutzgüter am Parallelbeispiel zeigen, wäre ein gänzlicher abgelehnter Regulierungsschutz allerdings kaum konsequent erklärbar. Daher ist es letztlich überzeugender, die Anwendbarkeit der DSGVO qua teilautomatischer Verarbeitung zu bejahen. Die Frage, ob die DSGVO nun aber tatsächlich diese Einlasskontrolle verbietet, muss in einem zweiten Teil analysiert werden.

 

 

 

 


You shall not pass – Die CoronaWarnApp als Einlassticket? (Teil 2)

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von FLORIAN ZUMKELLER-QUAST

Darf von potenziellen Kund*innen verlangt werden, dass diese die aktive Nutzung der CoronaWarnApp des Bundes belegen? Diese Frage beschäftigt den digitalaffinen juristischen Diskurs schon länger als es die App konkret überhaupt gibt. Das Bayerische Landesamt für Datenschutzaufsicht (BayLDA) ist der Ansicht, dass das Datenschutzrecht die einschlägige Regulierung darstellt und die danach erforderliche Rechtsgrundlage fehle. Doch ist das wirklich so?

In Teil 1 der Analyse hatte ich die Anwendbarkeit der DSGVO auf diesen Fall dargelegt. Da die DSGVO anwendbar ist, muss der*diejenige, der*die über Mittel und Zwecke der Verarbeitung bestimmt, für ihre Rechtmäßigkeit einstehen, Art. 5 Abs. 2, Art. 4 Nr. 7 DSGVO. Naheliegender Zweck der Einlasskontrolle als Zugangsbeschränkung ist der Infektionsschutz insbesondere für Mitarbeiter*innen und Kund*innen. Diesen sowie das in der Verarbeitung verwendete Mittel, das abzulesende Smartphone, wird von dem*der Geschäftsinhaberin festgelegt, sodass diese*r der*die Verantwortliche ist. Dass das RKI Verantwortlicher der App und damit der Anzeige über die aktive App-Nutzung selbst ist, ist hier unschädlich: Die Anzeige ist sowohl Teil des Vorgangs „Dashboard-Anzeige der App“ als auch „Ablesen des Dashboard-Inhalts“ vom vorgezeigten Smartphone-Bildschirm.

Mögliche Rechtsgrundlagen

Als Rechtsgrundlage nach Art. 6 Abs. 1 Satz 1 DSGVO kommen drei Varianten in Betracht: Zunächst die Einwilligung nach lit. a, sodann der Schutz lebenswichtiger Interessen nach lit. d und zuletzt ein überwiegendes Interesse nach lit. f. Die Rechtsgrundlage Vertrag nach lit. b wird in der Regel ausscheiden, da in den typischen Fällen die Einlasskontrolle aus Basis der CoronaWarnApp nicht als für die etwaige Vertragserfüllung erforderlich angesehen werden kann. Und mangels eines bereits erlassenen Begleitgesetzes zur CoronaWarnApp, wie verschiedentlich gefordert, kommt eine gesetzliche Verpflichtung nach lit. c ebenfalls nicht in Betracht. Die reine Fürsorgepflicht für Mitarbeiter wird hierfür jedenfalls nicht ausreichen, da die entsprechenden gesetzlichen Grundlagen aus allgemeinen Regelungen der Schuldverhältnisse bestehen und daher nicht spezifisch genug hinsichtlich der Datenverarbeitung sind. Ob sie für ein überwiegendes Interesse ausreichen könnten, könnte aber dahinstehen, wenn die Einwilligung die üblichen Anforderungen der Geschäftsbetreiber*innen ausreichend erfüllen würde.

Bei den angezeigten Informationen der CoronaWarnApp handelt es sich allerdings um Gesundheitsdaten im Sinne von Art. 9 Abs. 1 DSGVO, sodass zusätzlich eine der Varianten von Art. 9 Abs. 2 DSGVO erfüllt sein muss. Denn die App zeigt neben der reinen Aktivität selbst auch an, wie hoch das aktuelle Infektionsrisiko des*der Nutzer*in eingeschätzt wird.

Freiwilligkeit der Einwilligung?

Für die Einwilligung wäre dies unproblematisch, aus Art. 9 Abs. 2 lit. a DSGVO folgen hier mangels eines expliziten speziellen Verbotsgesetzes keine weitergehenden Einschränkungen. Das BayLDA lehnt die Rechtmäßigkeit der Einwilligung wegen Mängeln in der erforderlichen Freiwilligkeit ab. Im Beispiel eines Monopolsupermarktes bzw. anderen Monopolgeschäften in einer Region wäre dies sicher der Fall. In der wohl deutlich üblicheren Situation der Vielfalt der möglichen Geschäfte ist dies allerdings deutlich schwieriger. Es gibt schlicht kein allgemeines Recht auf Zugang zu einem speziellen Supermarkt oder einer spezifischen Bar. Der*die Betreiberin hat immer noch das Hausrecht und darf daher Menschen vom Betreten ausschließen.

Kein Kopplungsverbot

Auch wenn die DSGVO die tatsächliche Freiwilligkeit der Einwilligung besonders betont und sie auch von privatautonomen Entscheidung für einen (zweiseitigen) Vertrag unterscheidet, so klingt aus der pauschalen Behauptung der Nichtfreiwilligkeit eher die wohl nur scheintote Idee des Kopplungsverbotes: Eine unmittelbare Verknüpfung von datenschutzrechtlicher Einwilligung und anderweitigem rechtlichen Entgegenkommen des*der Verantwortlichen soll die Freiwilligkeit der Einwilligung negieren. Insbesondere die deutschen Datenschutzaufsichtsbehörden sehen in Art. 7 Abs. 4 DSGVO ein solches Verbot. Allerdings ist diese Ansicht schon kaum mit dem Wortlaut des Absatzes vereinbar. Auch hat die bisherige Rechtsprechung ein solches striktes Kopplungsverbot durchweg ablehnt, so etwa das OLG Frankfurt am Main (27.06.2019 – 6 U 6/19) und jüngst der französische Conseil d‘État (CR N° 434684). Denn ein*e Kund*in entscheidet auch bei Anforderung einer solchen Einwilligung immer noch selbst, ob ihm*ihr die Erlangung der geschäftlichen Leistungen die Preisgabe der persönlichen Daten wert ist.

Auch mit dem EG 16 der RL 2018/1972 wäre ein Kopplungsverbot kaum vereinbar, wird dort doch explizit vom Bezahlen mit Daten gesprochen. Ebenso baut die RL 2019/770 mitunter auf dem Konzept von Daten als Gegenleistung auf. Wenn aber personenbezogene Daten schon die Hauptleistung sein können, kann die Preisgabe personenbezogener Daten als Nebenleistung nicht pauschal unzulässig sein. Als sinnvoller Maßstab für die Beurteilung der Freiwilligkeit nach Art. 7 Abs. 4 bleibt daher lediglich, keine Ausnutzung von Zwangssituationen oder andere, ähnliche Eingriffe in die Privatautonomie zu dulden.

Übermäßiger Druck von Außen?

Ein derartiger Eingriff bzw. derartige externer Druck auf den*die potenzielle*n Kund*in wird bei der Verfügbarkeit von alternativen, ähnlichen Geschäften vor Ort oder dem zumutbaren Verweis auf Onlinebestellungen aber in der Regel nicht gegeben sein. Denn anders als etwa konkretere und dadurch meist noch sensiblere Gesundheitsdaten ist die reine Installation der App inkl. Ablesen des Infektionsrisikos ohne weitere Speicherung ein weitgehend eher weniger invasiv wahrgenommener Vorgang. Die Sinn und Zweck der CoronaWarnApp besteht gerade in einer erheblichen Vereinfachung und Verbesserung der Möglichkeiten der Verfolgung und frühzeitigen Eindämmung der Virenverbreitung. Unabhängig von der letztendlichen Effektivität der App in diesem Bereich ist die Anforderung der aktiven App-Nutzung diesem Zweck in jedem Fall unmittelbar dienlich, und dies auch gerade im Interesse der Geschäftsinhaber*innen, die so nicht unbegründet hoffen, einen Beitrag zur Vermeidung eines neuerlichen Lockdowns zu leisten.

Die Entscheidung, ob ein*e Kund*in der App diesbezüglich in gleichem Maße vertraut und ob ihm*ihr die Bestätigung dessen durch Preisgabe der Daten persönlich wert ist, ist angesichts eines nicht vorhandenen allgemeinen Anspruchs auf die ebendiese Leistungen nicht anders denn als freiwillig bezeichenbar. Dabei macht es auch keinen Unterschied, ob es sich beim fraglichen Geschäft um das bisherige Lieblings- oder Stammrestaurant oder auch nur den naheliegendsten Supermarkt  handelt. Aus rechtlicher Sicht sind Alternativen vorhanden, mögen diese einem selbst ansonsten tatsächlich auch noch so nachteilig erscheinen. Der externe Druck, in diese Datenverarbeitung einzuwilligen, übersteigt das sonst übliche und omnipräsente Ausmaß an sozialem Einfluss auf eigene Entscheidungen nicht. Und ein Erfordernis für eine weitergehende Freiheit der Entscheidung ist der DSGVO nicht entnehmbar.

Folgen der Einwilligung als Basis

Damit wäre die Einwilligung eine taugliche Rechtsgrundlage. Neben den Informationspflichten nach Art. 13, 14 DSGVO, die durch einen Aushang am Eingangsbereich erfüllbar wären, bleibt daher nur die Frage, welche Aufwände aus Art. 5 Abs. 2 DSGVO erwachsen. Aufgrund der Rechenschaftspflicht, die der*die Verantwortliche für die Einhaltung der Rechtmäßigkeit hat, wird im Rahmen der Einwilligung oft empfohlen, immer schriftliche oder andere beständige Dokumentationen der Einwilligung anzulegen. Dies wäre ein beträchtlicher Mehraufwand.

Allerdings ist ein derartiger Mehraufwand nicht im Sinne des Datenschutzrechtes. Denn schon nur zur Dokumentation müsste der*die Verantwortliche noch weitere Daten wie etwa den Namen erheben. Im Sinne der Datenminimierung wäre dies jedenfalls nicht. Im konkreten Fall der Erhebung vom Smartphonedisplay des*der Kund*in kommt allerdings ein einfacher Faktor ins Spiel: Allein das Verfahren stellt schon sicher, dass die Erhebung freiwillig erfolgt. Denn andernfalls bräuchte der*die Kund*in das Smartphone nicht vorzeigen. Im Vorzeigen kommt die Freiwilligkeit gerade zum Ausdruck. Und nach Ende des Vorzeigens ist die Verarbeitung auch schon beendet, sodass es auch nicht mehr auf weitere Freiwilligkeit ankommt. Dies hat zudem den Vorteil, dass ein etwaiger Widerruf der Einwilligung auch keine Folgeprobleme auslösen kann.

Auf die weiteren denkbaren Rechtsgrundlagen kommt es daher außer für die benannten Monopolgeschäfte schon gar nicht an. Und bei diesen wäre ein überwiegen der Datenverarbeitungsinteressen der besonders geschützten Gesundheitsdaten (Art. 9 Abs. 1 DSGVO) aufgrund der Versorgungsfunktion wenn überhaupt, so wohl nur erschwert begründbar. Im Normalfall kann allerdings ein*e Geschäftsinhaber*in über das Hausrecht tatsächlich den Zugang zum eigenen Geschäft vom Beleg der aktiven Nutzung der CoronaWarnApp abhängig machen. Sollte die Bundesregierung zu ihrem Wort stehen, dass dies nicht erwünscht ist und nicht stattfinden darf, muss sie ein entsprechendes Gesetz in die Wege leiten, dass dieses Vorgehen nach Art. 9 Abs. 2 Nr. 1 DSGVO verbietet.

 

 

 

Service am Montag

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Stellen

Zwei Stellen als akademische*r Mitarbeiter*in (25-50 %), Institut für Medien- und Informationsrecht (Prof. Dr. Jens-Peter Schneider), ALU Freiburg i.Br., ab 01.11.2020, Bewerbungsfrist: 15.08.2020

Drei Stellen als wissenschaftliche*r Referent*in, Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht Freiburg i.Br., Abt. Öffentliches Recht (Prof. Dr. Ralf Poscher), ab sofort, Bewerbungsfrist: 01.08.2020

Wissenschaftliche*r Mitarbeiter*in (85 %) für das DFG-Projekt „Unternehmen zwischen Privatheit und Öffentlichkeit: Autorität, Legitimität und Verantwortung im Menschenrechtsregime der Vereinten Nationen“, Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht Heidelberg (PD Dr. Janne Mende), ab 01.10.2020, Bewerbungsfrist: 19.07.2020

Drei Stellen für Doktorand*in (60 %), Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht Freiburg i.Br., Abt. Öffentliches Recht (Prof. Dr. Ralf Poscher), ab sofort, Bewerbungsfrist: 01.08.2020

Wissenschaftliche*r Mitarbeiter*in (75 %), Fakultät für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Fachbereich Sozialökonomie, Professur für Deutsches und Internationales Arbeits- und Sozialrecht und Rechtsvergleichung (Prof. Dr. Marita Körner), ab 01.10.2020, Bewerbungsfrist: 31.07.2020

Wissenschaftliche*r Mitarbeiter*in (50-100%), Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Informationsrecht, insbes. Datenschutzrecht (Prof. Dr. Matthias Bäcker, LL.M.), JGU Mainz, ab 01.08.2020, Bewerbungsfrist: 31.07.2020

Wissenschaftliche*r Mitarbeiter*in (75 %), Lehrstuhl für Staats- und Verwaltungsrecht, Rechtsvergleichung und Europarecht (Prof. Dr. Elke Gurlit), JGU Mainz, ab 01.09.2020, Bewerbungsfrist: 31.07.2020

Professeur-e associé-e en droit administratif (50 %), IDHEAP de la Faculté de droit, des sciences criminelles et d’administration publique Lausanne, Bewerbungsfrist: 31.07.2020

Call for Papers

Call for Papers: Rechtsstaat und Demokratie unter Druck Perspektiven in der sozialen und ökologischen Krise, Universität Wien, 11.-13.03.2021, Einreichungsfrist: 15.08.2020

Call for Papers: 9th Global Conference, American Society of Comparative Law, 15.-16.10.2020, Einreichungsfrist: 15.07.2020

Das finden wir spannend

Ines Härtel setzt sich als Nachfolgerin von Johannes Masing als BVerfG-Richterin durch
BVerfG-Entscheidung zur Durchsuchung von Abgeordnetenbüros
Weiterhin Debatte um das EZB-Urteil des BVerfG

 

Nochmal: Das Recht Schwerstkranker auf Medikamente zur Selbsttötung

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von MIRIAM LEMMERT

Mit Beschluss vom 20. Mai 2020 hat das BVerfG die Vorlagen des VG Köln zur Klärung der Verfassungsmäßigkeit des § 5 Abs. 1 Nr. 6 BtMG als unzulässig abgewiesen, also in der Sache nicht entschieden. Das klingt zunächst wenig spektakulär, ist jedoch in einer Reihe von Ereignissen und als Glied einer immer länger werdenden Kette von Rechtfertigungsversuchen des Bundesgesundheitsministers Jens Spahn zu sehen, weshalb der folgende Beitrag diesen jüngsten Beschluss einordnen wird.

Der Hintergrund

Hierbei ging es nämlich um die Vereinbarkeit des Ausschlusses der Erteilung einer Erwerbserlaubnis für Betäubungsmittel zur Selbsttötung mit dem Grundrecht auf Selbstbestimmung über den Zeitpunkt und die Art des eigenen Todes – dass letzteres aus dem Allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) folgt, hatte nicht nur das BVerwG (Az. 3 C 19.15) in seiner Grundsatzentscheidung vom 2. März 2017 angenommen und unter engen Bedingungen (unheilbare Krankheit, unerträgliche Leidenssituation, freie und ernsthafte Entscheidung, keine zumutbare Alternative) einen Anspruch auf Erlaubniserteilung angenommen. Die Prämisse wurde sogar vom BVerfG am 26. Februar 2020 in einer in der breiten Öffentlichkeit wahrgenommenen und größtenteils gelobten Entscheidung bestätigt (Az. 2 BvR 2347/15, vgl. allein Ls. 1 a) -c)).

Anlass für die Vorlage gab nun trotzdem das von Spahn geführte Bundesgesundheitsministerium (BMG), indem es dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) eine Art Nichtanwendungserlass in Bezug auf das zwar nicht in seinen Voraussetzungen, aber in seinen Folgen doch recht liberale BVerwG-Urteil hatte zukommen lassen. Daraus folgte, dass sich das von den Betroffenen gefeierte BVerwG-Urteil nie in der Praxis auswirkte – entweder wurden die Anträge abgelehnt oder die unheilbar kranken Betroffenen verstarben in der Zwischenzeit (vgl. zu diesem Komplex und den daraus folgenden rechtsstaatlichen Problematiken hier). Letztere zynische Folge trat im Übrigen auch im Vorlageverfahren 1 BvL 3/20 ein, welches durch den durch das VG Köln mitgeteilten Tod der Klägerin des Ausgangsverfahrens am 27. Februar 2020 mangels Entscheidungserheblichkeit unzulässig wurde. Die Begründung für den Nichtvollzug wechselte stetig; in jüngerer Zeit wurde insbesondere auf den „Respekt vor dem Bundesverfassungsgericht“verwiesen, der es gebiete, die Entscheidungen zu § 217 StGB und der Kölner Vorlage abzuwarten.

Die Vorlage

Im Gegensatz zum BVerwG, welches mittels einer verfassungskonformen Auslegung des § 5 Abs. 1 Nr. 6 unter engen Bedingungen (unheilbare Krankheit, unerträgliche Leidenssituation, freie und ernsthafte Entscheidung, keine zumutbare Alternative) einen Anspruch auf Erlaubniserteilung bejahte, sah das mit einer auf die BVerwG-Rechtsprechung gestützten Klage befasste VG Köln die Voraussetzungen für eine solche Auslegung als nicht gegeben an, weshalb es das BVerfG gem. Art. 100 I GG am 19. November 2019 angerufen hatte (Az. 7 K 8560/18).

Argumentiert wurde, dass es aufgrund von Regelungszweck und Systematik des BtMG sowie aktuellen Gesetzesänderungen keine Spielräume für eine solche Auslegung gebe. Die Erteilung einer Erwerbserlaubnis für ein Betäubungsmittel zur Selbsttötung widerspreche dem erkennbaren historischen und aktuellen Willen des Gesetzgebers, der insbesondere im Gesetzgebungsverfahren zu § 217 StGB zum Ausdruck gekommen sei. Zudem müsse der Gesetzgeber wesentliche Entscheidungen im grundrechtsrelevanten Bereich selbst treffen.

Der hieraus resultierende Rechtszustand sei indes mit dem in Art. 2 Abs. 1 und Art. 1 Abs. 1 GG verankerten Selbstbestimmungsrecht über den eigenen Tod unvereinbar, wenn sich der Betroffene aufgrund einer schwersten Erkrankung in einer extremen Notlage befinde. Insbesondere könnten betroffene Personen nicht auf die früher vereinzelt vorhandene Alternative einer Erwerbserlaubnis verwiesen werden, um einen Arzt um Sterbehilfe durch Verschreibung eines tödlich wirkenden Arzneimittels zu bitten, weil der Gesetzgeber diesen Ausweg praktisch durch die Einführung des § 217 StGB und die Akzeptanz des Verbots der ärztlichen Suizidbeihilfe im ärztlichen Berufsrecht versperrt habe. Der ausnahmslose Ausschluss einer Erwerbserlaubnis sei auch nicht wegen der Gefahr einer Normalisierung des Suizids gerechtfertigt, da das staatliche Genehmigungsverfahren z.B. durch eine ärztliche Verschreibung von Betäubungsmitteln ersetzt werden könnte.

Die Ablehnung

Das BVerfG lehnte diese Vorlagen mit der Begründung ab, dass sie den Begründungsanforderungen aus § 80 Abs. 2 S. 1 BVerfGG jedenfalls angesichts der zwischenzeitlich durch das BVerfG festgestellten Verfassungswidrigkeit und Nichtigkeit des § 217 StGB nicht genügten, um die Verfassungswidrigkeit der vorgelegten Vorschriften auch unter den geänderten Rahmenbedingungen darzulegen (Az. 1 BvL 2/20).

Das VG hatte die Entscheidung des BVerfG in Sachen § 217 StGB nämlich offenbar so nicht vorhergesehen und seine Vorlagebeschlüsse maßgeblich auf die Erwägung gestützt, dass den Betroffenen keine andere sichere und zumutbare Möglichkeit der Lebensbeendigung zur Verfügung stehe, insbesondere nicht zugemutet werden könne, einen Arzt zu suchen, der bereit sei, die mit der Leistung von Sterbehilfe (insb. aufgrund von der Existenz des § 217 StGB) verbundenen rechtlichen Risiken einzugehen. Hierbei wurde dann maßgeblich auf die (mittlerweile aber entfallene) Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Hilfeleistung zur Selbsttötung abgestellt und im Übrigen davon ausgegangen, dass das ärztliche Standesrecht einer ärztlichen Begleitung und Unterstützung der Selbsttötung beispielsweise durch ärztliche Verschreibung eines tödlich wirkenden Betäubungsmittels jedenfalls nicht in allen Bundesländern entgegenstehe (vgl. VG Köln, Rn. 52). Aufgrund des Entfallens des § 217 StGB stelle sich die Frage nach der Zumutbarkeit der Inanspruchnahme von Sterbehilfe anstelle einer Erlaubnis zum Erwerb eines Betäubungsmittels zur Selbsttötung heute anders als zum Zeitpunkt der Abfassung des Vorlagebeschlusses.

Was folgt hieraus?

Dem Beschluss des BVerfG ist grundsätzlich zuzustimmen – die Argumentation des VG wurde durch die fortgefallene Existenz des § 217 StGB zumindest löchrig. Dies ist sehr ärgerlich, kam doch so auch nicht zur Geltung, dass im Großteil der Bundesländer dem ärztlich assistierten Suizid nach wie vor doch das Standesrecht entgegensteht (vgl. hierzu in einer bloßen Randbemerkung auch VG Köln in Rn. 155; bzgl. der rechtlichen Risiken für Ärzte deutlicher differenzierend BVerwG in Rn. 35) – der Staat muss den Grundrechtsschutz aber nicht nur allgemein innerhalb seiner eigenen Rechtsordnung gewährleisten (deswegen wäre schon ein Verweis auf Sterbehilfe im Ausland unzumutbar, vgl. Rn. 300 hier), sondern dies muss auch flächendeckend gegeben sein.

Zudem könnte aufgrund des Wortlauts des Ablehnungsbeschlusses („[…] stellt sich die Frage nach der Zumutbarkeit der Inanspruchnahme von Sterbehilfe anstelle einer Erlaubnis zum Erwerb eines Betäubungsmittels zur Selbsttötung […] heute anders“, Rn. 15) gerade bei geneigten BMG-Mitarbeitenden der Eindruck entstehen, dies sei ein Fingerzeig in die Richtung, ein (ärztlich) assistierter Suizid sei eine zumutbare Alternative zum selbstverantworteten. Dabei verweist der gefasste Beschluss meiner Ansicht nach aber nur auf das aus formalen Gründen bestehende Begründungserfordernis, welches sich auf den Zeitpunkt der Kammerentscheidung bezieht.

Eine solche Auffassung würde auch dem Kern des BVerfG-Urteils aus Februar widersprechen: Das Recht auf selbstbestimmtes Sterben schützt nicht nur die Entscheidung über das „Ob“, sondern gerade auch über das „Wie“ der Lebensbeendigung. Daher macht es im Ergebnis keinen Unterschied, dass durch das BVerfG-Urteil gerade die Möglichkeit des assistierten Suizids eröffnet wurde, wodurch man nun nicht mehr von einer „faktischen Unmöglichkeit” des Suizids sprechen kann. Bezugspunkt dieser Unmöglichkeit sowie der Bedingung realer Wirkkraft von Alternativen (Rn. 283) war auch immer der Zugang speziell zur Assistenz (vgl. Rn. 216: „faktisch unmöglich, die von ihm gewählte […]“). Die Annahme, dass keine weiteren Möglichkeiten zur Verfügung stehen, intensivierte nur den Eingriff, begründete ihn aber nicht (vgl. Rn. 280). (Vgl. zu diesem Komplex weiterführend schon hier.)

Wie wird es weitergehen? Für das BMG wird es nun erfahrungsgemäß wahrscheinlich gelten, die Reaktion des VG Köln zu beobachten („Jetzt muss das Verwaltungsgericht entscheiden, wie es mit dem Beschluss umgeht“), zumal das Urteil von Februar noch immer ausgewertet werde. In offenem Widerspruch zur rechtskräftigen Grundsatzentscheidung des BVerwG wird also munter weiterhin so getan, als sei die Rechtslage ungeklärt – es werden nicht einmal eigene Schritte zur weiteren (angeblich doch ersehnten) verfassungsgerichtlichen Klärung eingeleitet, während sich die Anträge Schwerstkranker in der Zwischenzeit durch deren Tod von selbst erledigen.

Zitiervorschlag: Miriam Lemmert, Nochmal: Das Recht Schwerstkranker auf Medikamente zur Selbsttötung, JuWissBlog Nr. 100/2020 v. 7.7.2020, https://www.juwiss.de/100-2020/

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Corona-Pandemie: Urlaubsreisen nur noch mit negativem Corona-Test?

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von SIMONE KUHLMANN

Wer zukünftig aus einem Risikogebiet kommend in Deutschland in bestimmte Regionen in den Urlaub fahren möchte, benötigt seit Ende Juni einen negativen Corona-Test. Andernfalls sind Hotels und andere Beherbergungsbetriebe gehalten, den Reisenden abzulehnen. Was als Konzept für Urlaubsreisen begonnen hat, könnte bald auch Konzept für andere Freizeitaktivitäten sein. Zugang zum Konzert oder zu sonstigen Veranstaltungen könnte es dann bspw. nur noch mit einem negativen Corona-Test geben.

Beherbergungsverbot bei fehlendem negativen Corona-Test

Aufgrund des jüngsten Infektionsgeschehens in Gütersloh haben neben Ländern wie Bayern, Niedersachsen und Mecklenburg-Vorpommern kurzerhand auch die Länder Baden-Württemberg und Brandenburg ein Beherbergungsverbot für Personen erlassen, die aus einem Gebiet mit 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner:innen kommen. Ausgenommen von diesem Verbot sind Personen, die über ein max. 48 Stunden altes ärztliches Zeugnis verfügen, welches bestätigt, dass keine Anhaltspunkte für das Vorliegen einer Infektion mit SARS-CoV-2 vorliegt. Als hinreichendes ärztliches Zeugnis gilt dabei ausschließlich ein sog. PCR-Test (Polymerase-Kettenreaktion), der auf vorhandenes Erbgut des Virus testet. Positive Antikörper- oder Antigen-(Schnell-)Tests genügen hingegen nicht.

Die dahinterstehende Idee ist nicht gänzlich neu. Bereits Ende April sind unter dem Stichwort „Covid-19-Pass“ und „Immunitätsausweis“ – auch auf europäischer Ebene – schon vergleichbare Ideen diskutiert worden. Anders als bei der jetzigen Konzeption ging bzw. geht es dabei allerdings nicht um den Nachweis, nicht mit SARS-CoV-2 infiziert zu sein, sondern um den Nachweis der Immunität gegen das Virus basierend auf nachgewiesenen Antikörpern. Die Idee konnte sich allerdings u.a. aufgrund der Tatsache, dass nach wie vor unklar ist, ob und wie lange Patienten nach einer überstandenen Infektion überhaupt immun sind, vorerst nicht durchsetzen.

Das falsche Versprechen von Sicherheit

Auch das jetzige Abstellen auf einen negativen Corona-Test ist eine trügerische Angelegenheit, die falsche Sicherheit verspricht. Denn abgesehen von der Tatsache, dass das jeweilige Testergebnis stark von der Art und dem Zeitpunkt der Probenentnahme abhängt – ist das Virus doch je nach Erkrankungsphase eher im Rachenraum oder nur im Lungensekret nachweisbar –, stellt ein solcher Corona-Test max. eine Momentaufnahme dar. So kann eine Person aufgrund der Inkubationszeit von bis zu 14 Tagen zwar virusfrei getestet sein, aber einige Tage später dennoch das Virus verbreiten. Vor allem bei Urlaubsreisen, die üblicherweise über mehrere Tage andauern, kann daher ein 48 Stunden vor Anreise angefertigter PCR-Test nur teilweise Sicherheit gewährleisten.

Problematisch sind zudem die Kosten für die Corona-Tests sowie die für ein solches Konzept notwendigen Testkapazitäten. Vor allem wenn sich zur Ferienzeit aufgrund des Infektionsgeschehens vor Ort viele Personen zeitgleich auf Corona testen lassen müssen, um in den Urlaub reisen zu können, bedarf es hoher Testkapazitäten, um die gesetzlich vorgeschriebene 48-Stunden-Frist für einen gültigen Nachweis überhaupt wahren zu können. Hinzu kommen die Kosten von 60-200 EUR pro Test. Da die Krankenkassen diese bislang nur in medizinisch veranlassten Fällen übernehmen, werden Urlaubsreisende – abgesehen von Personen, die in Bayern gemeldet sind und für die das Land seit dem 1. Juli die Kosten übernimmt – diese in der Regel selbst tragen müssen. Vor allem, wenn das Konzept aktueller, negativer Corona-Test als Zugangsvoraussetzung Schule macht und auch für den Zutritt zu Veranstaltungen wie Konzerten oder zum Arbeitsplatz Realität werden würde, wäre dies rechtlich fragwürdig. Denn mehr noch als sonst würden dann das individuelle finanzielle Leistungsvermögen über die Teilhabe am kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Leben entscheiden.

Dennoch: Keine unzulässige Beschränkung der Reisefreiheit

Trotz dieser bestehenden Kritik dürften die ergangenen Beherbergungsverbote bei fehlendem negativen Corona-Test rechtlich wenig zu beanstanden sein. Insbesondere verletzen die Verbote nicht das in Art. 11 Abs. 1 GG verbriefte Recht auf Freizügigkeit. Zwar wird durch sie das Recht, an jedem Ort innerhalb des Bundesgebietes Aufenthalt und Wohnung zu nehmen, beeinträchtigt. Gleichwohl wird dies angesichts der drohenden Gefahren für Leib und Leben anderer Beherbergungsgäste sowie weiterer möglicher Kontaktpersonen, aber auch mit Blick auf die wirtschaftlichen Folgen, die eine eingeschleppte Corona-Infektion für den jeweiligen Beherbergungsbetrieb aber auch für das gesamte Urlaubsgebiet mit sich bringen würde, hinzunehmen sein. Denn eine Infektion, die durch einen Urlaubsgast verursacht werden würde, hätte mit Sicherheit die Schließung des Beherbergungsbetriebs zur Folge, könnte aber im schlechtesten Fall sogar lokal wieder zu einem begrenzten Lockdown führen.

Um derartige Szenarien zu verhindern, gestattet Art. 11 Abs. 2 GG explizit die Beschränkung der Freizügigkeit, wenn dies zur Verhinderung der Ausbreitung schwerer übertragbarer Krankheiten (sog. Seuchengefahr) erforderlich ist. Zu diesen schweren Krankheiten zählt unzweifelhaft auch das neuartige SARS-CoV-2. Eine Infektion mit dem Virus kann besonders im Fall eines schweren Verlaufs zu teils irreversiblen Organschäden bis hin zum Tod führen, auch weil erfolgsversprechende Therapie- und Behandlungsmöglichkeiten nach wie vor noch weitestgehend fehlen. Nicht umsonst ist SARS-CoV-2 daher in die Liste der gemäß § 6 Abs. 1 Nr. 1 IfSG meldepflichtigen Krankheiten aufgenommen worden. Dabei lässt sich eine Ausbreitung des Virus aufgrund seiner Übertragung über Tröpfchen bzw. Aerosole und des Fehlens eines Impfstoffs derzeit sinnvoll nur durch Kontaktvermeidung zu infizierten Personen verhindern.

Die Beherbergungsverbote bei fehlendem negativen Corona-Test stehen zudem nicht außer Verhältnis zu den damit verbundenen Vorteilen für den Gesundheitsschutz der Bevölkerung, aber auch für das wirtschaftliche und soziale Leben. Insbesondere fehlt es trotz der Tatsache, dass diese Tests lediglich eine Momentaufnahme wiedergeben und daher keine 100prozentige Sicherheit gewähren, nicht an deren Geeignetheit. Denn aus rechtsstaatlicher Sicht ist es bereits ausreichend, wenn die abstrakte Möglichkeit besteht, dass das gewählte Mittel wenigstens das verfolgte Ziel fördert. Letzteres wird man dem Beherbergungsverbot für nicht negativ auf das SARS-CoV-2 getestete Personen kaum absprechen können, zumal dem Gesetzgeber vom BVerfG ein weites Prognoserecht bzgl. der Mittelwahl zugestanden wird. Denn selbst wenn die Tests nicht vollständig ausschließen, dass negativ getestete Personen zum Zeitpunkt der Reise doch infektiös sind, lässt sich durch die Tests doch zumindest verhindern, dass bislang unerkannt mit Corona Infizierte den Virus weiterverbreiten und das wirtschaftliche und soziale Leben ggfs. wieder heruntergefahren werden muss. Abgesehen davon sind die Beherbergungsverbote in ihrer jetzigen Ausgestaltung ausschließlich auf Personen beschränkt, die aus einem sog. Risikogebiet anreisen, also einem Gebiet, wo die Zahl der Neuinfektionen pro Tag laut dem Robert-Koch-Institut den kritischen Wert überschreitet. Damit ist der Eingriff in die Freizügigkeit von vornherein auf begründete Fälle begrenzt, wobei die dem Einzelnen aufgrund eines einmalig zu erbringenden Negativ-Tests entstehenden Nachteile mit Blick auf die damit verfolgten Ziele, insb. den Gesundheitsschutz der Bevölkerung sicherzustellen, ohnehin hinzunehmen sein dürften.

Zitiervorschlag: Simone Kuhlmann, Corona-Pandemie: Urlaubsreisen nur noch mit negativen Corona-Test?, JuWissBlog Nr. 101/2020 v. 09.07.2020, https://www.juwiss.de/101-2020/.

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Stellen

Wiss. Mitarbeiter*in, 100 %, Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Informationsrecht, insbes. Datenschutzrecht (Prof. Dr. Matthias Bäcker, LL.M.),  Johannes Gutenberg-Universität Mainz, ab 01.08.2020

Wiss. Mitarbeiter*in, 50 %, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, insb. Verwaltungsrecht (Prof. Dr. Angela Schwerdtfeger), Georg-August-Universität Göttingen

Zwei Stellen als Wiss. Mitarbeiter*in,  50 %, Professur für deutsches und ausländisches öffentliches Recht, Staatskirchenrecht und Völkerrecht (Prof. Dr. Antje von Ungern-Sternberg), Universität Trier

Wiss. Mitarbeiter*in, 50 %, Professur für Öffentliches Recht und Steuerrecht(Prof. Anna Leisner-Egensperger), Friedrich-Schiller- Universität Jena

Lektoratsassistenz, Voll- oder Teilzeit, Mohr Siebeck, Tübingen

Referendar*in beim Verfassungsblog

Research Fellow in Political Philosophy or Legal Theory on the Legitimacy of International Courts, PluriCourts, University of Oslo

Call for Papers

Call for Papers: 10. UN Forschungskolloquium: „Die Vereinten Nationen und Ressourcen“, 8.-10. Oktober 2020 an der Ruhr-Universität Bochum, Frist 1.8.2020

Das finden wir spannend

 

Black Lives Matter: Warum „Rasse“ nicht aus dem Grundgesetz gestrichen werden darf

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von ELISABETH KANEZA

In den USA und auch in Deutschland fordern Schwarze Menschen ihr verfassungsmäßiges Recht ein, nicht durch den Staat diskriminiert, verfolgt und ermordet zu werden. Sie wollen, dass Schwarze Leben in weiß dominierten Gesellschaften zählen. In der öffentlichen Diskussion jedoch scheint daran gezweifelt zu werden, dass Rasse als Rechtsbegriff und Marker von Zugehörigkeit von Bedeutung ist – was sich auch in den Forderungen widerspiegelt, den Begriff aus dem Grundgesetz zu streichen.

Aktuell wird die bereits seit einigen Jahren andauernde Debatte über die Streichung des Begriffs Rasse im Grundgesetz intensiv in den Medien geführt. Erneut angestoßen wurde die Diskussion durch den Mord an dem Afro-Amerikaner George Floyd durch einen weißen Polizisten und die darauffolgenden Proteste der Black Lives Matter Bewegung, die auch hierzulande stattfanden. Die politischen Parteien suchen nun nach Maßnahmen, um den Rassismus in Deutschland zu bekämpfen. Eine dieser Maßnahmen soll die Streichung des Begriffs Rasse aus Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG sein. Die Begründung, die vorgebracht wird, ist, dass der Begriff die nationalsozialistische Ideologie von biologischen „Menschenrassen“ propagiere und somit als rassistisch abzulehnen sei.

Vor diesem Hintergrund ist es notwendig, sich mit dem Hintergrund, der Bedeutung und Funktion von Rasse als Rechtsbegriff zu befassen.

Begriffsbestimmung und Entstehungsgeschichte

Aus Sicht der rechtswissenschaftlichen Critical Race Theory lässt sich Rasse als eine sozial gewachsene Kategorie definieren, die im Recht als Diskriminierungsmerkmal (oder Diskriminierungsgrund) verankert ist, um die Realität von Gruppen anzuerkennen, die als Folge von Zuschreibungsprozessen als rassisch markiert wurden (im Folgenden als Rassialisierung bezeichnet). Rasse dient somit als juristisches Instrument um solche Rassialisierung zu identifizieren und so strukturellen Rassismus zu adressieren. In diesem Artikel wird Rasse kursiv geschrieben, um die Distanz zum vermeintlichen biologischen Gehalt der Terminologie zu kennzeichnen.

Das Verbot der an Rasse anknüpfenden Diskriminierung ist im nationalen Recht, im Unionsrecht sowie im Völkerrecht verankert. Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG hat den folgenden Wortlaut:

Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt werden oder bevorzugt werden.

Die Beratungen des Parlamentarischen Rats, der von 1948 bis 1949 das Grundgesetz erarbeitete, waren von den Eindrücken der NS-Diktatur und des Völkermords an bis zu sechs Millionen europäischen Juden (Holocaust) geprägt. Im Ausschuss für Grundsatzfragen, in dem die Abgeordneten die Formulierungen der Grundrechte entwarfen und vorverhandelten, dienten insbesondere die Verfassungen der Länder sowie der Entwurf der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) der damals noch neuen Organisation der Vereinten Nationen (VN) als Vorlagen für Art. 3 Abs. 3 S.1 GG. In Art. 2 AEMR werden die Menschenrechte ohne Unterschied nach Rasse garantiert.

In Anerkennung des nationalsozialistischen Unrechts wurde mit Art. 116 GG garantiert, dass frühere deutsche Staatsangehörige, denen die Staatsbürgerschaft aus „rassischen Gründen“ entzogen worden ist, wiedereingebürgert werden können. Ferner gab das Bundesentschädigungsgesetz von 1956 Personen, die „aus Gründen der Rasse“ (§ 1 Abs. 1) verfolgt worden waren, einen Anspruch auf Entschädigung. Strafrechtlich schützt § 130 StGB „nationale, rassische, religiöse oder durch ethnische Herkunft bestimmte Gruppen“ vor der Volksverhetzung. Seit 2006 ist Rasse im Privatrecht durch das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz als Diskriminierungsgrund aufgeführt.

Auf der Ebene des Völkerrechts wurde der erste rechtlich bindende universelle Menschenrechtsvertrag, das Internationale Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form der Rassendiskriminierung (International Convention on the Elimination of All Forms of Racial Discrimination, ICERD), 1965 beschlossen. Zu den Entwicklungen, die den Anlass für die ICERD gaben, zählen der Widerstand gegen das Apartheidregime in Südafrika sowie die Bürgerrechtsbewegung der Schwarzen Bevölkerung in den USA. Art. 1 ICERD erkennt Rasse, Hautfarbe, Abstammung, nationalen Ursprung und Volkstum als Diskriminierungsmerkmale an. Neben den Menschenrechtsverträgen der VN ist Rasse in Art. 14 der Europäischen Menschenrechtskonvention sowie in Art. 21 der Grundrechtecharta der Europäischen Union als Diskriminierungsmerkmal geschützt.

Die historische Betrachtung verdeutlicht, dass es nicht Zweck der Aufnahme des Begriffs Rasse im nationalen Recht, Unionsrecht und Völkerrecht war, die Rassenlehre des Nationalsozialismus, des Kolonialismus und der anti-Schwarzen Segregation zu reproduzieren, sondern dass damit jegliche Diskriminierung auf Grund der Vorstellung von Rasse verboten und Gleichberechtigung ermöglicht werden sollte. Rasse als Diskriminierungsmerkmal zu bestimmen, war die juristische Antwort auf die Realität des anhaltenden strukturellen Rassismus. Als Rechtsbegriff kommt daher Rasse keine biologische Deutung zu.

Funktion von Rasse im Recht: Anerkennung und Abwehrrecht

Rasse drückt also nicht aus, dass es biologische „Menschenrassen“ gibt, sondern, dass es Personen und Gruppen gibt, die aufgrund dieses Merkmals Ungleichbehandlung erfahren.

Die erste Funktion von Rasse im Recht ist somit, anzuerkennen, dass sowohl rassialisierte Gruppen als auch auf Rassismus basierende Hierarchien existieren und dass die daraus resultierenden Strukturen eine Gleichstellung verhindern. Das im Grundgesetz verankerte Gleichheitsgebot trägt dem Rechnung. Auch in den menschenrechtlichen Verträgen werden die betroffenen Gruppen sowie die Notwendigkeit für die Förderung ihrer Rechte anerkannt. So verpflichtet Art. 2 Abs. 2 ICERD die Vertragsstaaten „auf sozialem, wirtschaftlichem, kulturellem und sonstigem Gebiet besondere und konkrete Maßnahmen, um die Entwicklung und einen hinreichenden Schutz bestimmter Rassengruppen oder ihnen angehörender Einzelpersonen sicher zu stellen, damit gewährleistet wird, dass sie in vollem Umfang und gleichberechtigt in den Genuss der Menschenrechte und Grundfreiheiten gelangen“ zu treffen. Der VN-Menschenrechtsausschuss CERD vertritt die Position, dass die Aufnahme von Rasse in den Verfassungen der Vertragsstaaten notwendig ist, um den Diskriminierungsschutz des ICERD für betroffene Gruppen zu garantieren. In seinen Abschließenden Bemerkungen zum letzten periodischen Staatenbericht Deutschlands (2015) forderte der Ausschuss die Bundesregierung auf, eine Diskriminierungsdefinition im Grundgesetz zu verwenden, die mit Art. 1 ICERD vollständig übereinstimmt.

Neben dieser rechtlichen Relevanz ist Rasse auch von politischer Bedeutung, vor allem dann, wenn durch gezielte Maßnahmen die Situation von betroffenen Gruppen erfasst und verbessert werden soll. Denn rechtlicher Schutz vor Diskriminierung setzt voraus, dass diese erfassbar ist. Ob sie rechtlich erfassbar ist, hängt wiederum davon ab, ob das Gesetz das zutreffende Diskriminierungsmerkmal anerkennt. So schuf die Anerkennung von Rasse eine rechtliche Grundlage für die Wiedergutmachungspolitik der Bundesrepublik, die seit der Nachkriegszeit den Holocaustüberlenden zugute kommt. Bis zu 1 Milliarde Euro gibt die Bundesregierung jährlich für Leistungen der öffentlichen Hand aus.

Die zweite Funktion des Merkmals Rasse im öffentlichen Recht ist das Abwehrrecht gegen den Staat. Das Diskriminierungsverbot des Grundgesetzes richtet sich in erster Linie an die Träger*innen der staatlichen Gewalt – sie sind die Grundrechtsverpflichteten. Gemäß Art. 3 Abs. 3 S.1 GG darf der Staat nicht aufgrund des Merkmals der Rasse diskriminieren – aus diesem Grund sind Racial Profiling und Polizeigewalt, die an der Hautfarbe anknüpft sowohl als verfassungs- als auch menschenrechtswidrig zu bewerten. Nach dem in der ICERD verankerten Diskriminierungsverbot haben Staaten „Handlungen oder Praktiken der Rassendiskriminierung gegenüber Personen, Personengruppen oder Einrichtungen zu unterlassen und dafür zu sorgen, dass alle staatlichen und örtlichen Behörden und öffentlichen Einrichtungen im Einklang mit dieser Verpflichtung handeln“ (Art. 2 Abs. 1a).

Somit lässt sich sowohl aus dem nationalen Recht als auch aus dem Völkerrecht ein Verbot der rassischen Diskriminierung ableiten. Personen und Gruppen dürfen nicht aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer vermeintlichen Rasse benachteiligt werden. Es geht also nicht bloß um die Sanktionierung individualisierten Verhaltens, das als rassistisch gedeutet werden kann, sondern um die Vermeidung und Beseitigung von struktureller Benachteiligung einzelner Gruppen vs. die Bevorzugung anderer Gruppen. Bei der rassischen Diskriminierung ist es daher ausschlaggebend, ob eine Handlung oder Praxis auf das Merkmal der Rasse zweckgerichtet ist und ob für eine oder mehrere Personengruppen dadurch eine Benachteiligung entsteht (i.S. einer Merkmalsträgerschaft). Gemäß der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union trifft eine unmittelbare rassische Diskriminierung von Personen und Gruppen auch dann zu, wenn es kein identifizierbares Opfer gibt.

Aufgrund des weit verbreiteten Unbehagens in Deutschland gegenüber der Verwendung des Begriffs Rasse, wird im politischen und gesellschaftlichen Diskurs stattdessen von „rassistisch“ gesprochen. Auf das Recht übertragen, bedeutet es jedoch, dass damit Sinn und Zweck der entsprechenden Rechtsnormen verändert würden. Bereits jetzt weist die deutsche Rechtspraxis keinen Konsens darüber auf, wann staatliches Handeln als rassistisch gilt. So wird beispielsweise die Frage, ob die Praxis des Racial Profiling rassistisch sei, von Richter*innen und Behörden unterschiedlich bewertet. Es ist zudem ein „farbenblinder“ Ansatz in der Rassismusbekämpfung zu beobachten, der sich beispielsweise dadurch ausdrückt, dass bei den Straftaten, die als politisch motiviert bestimmt werden, die Hautfarbe der Opfer nicht erfasst wird. Die Bundesregierung räumte in ihrem letzten Staatenbericht an CERD (2013) ein, dass sie keine Angaben über die Zahl rassisch-motivierter Straftaten gegen Schwarze Menschen machen könne, da sie für diese Gruppe nicht separat erfasst werden. Damit ergibt sich ein folgenschweres Problem: Rassische Gewalt an Schwarzen Menschen existiert, statistisch gesehen, nicht. Um diese strukturelle Unsichtbarkeit der Rassismuserfahrungen von Schwarzen Menschen zu adressieren, muss Rasse im Recht benannt und in der strafrechtlichen Praxis erfasst werden.

Umgang mit Rasse im Grundgesetz

Rasse aus dem Grundgesetz zu streichen würde ein Weniger an Diskriminierungsschutz und Anerkennung für Personen und Gruppen bedeuten, die von Rassismus betroffen sind. Denn fällt ein Merkmal im Antidiskriminierungsrecht weg, besteht die Gefahr, dass für die vormals hiervon erfasste Gruppe eine Schutzlücke entsteht. Ferner würde im nationalen Recht ein dogmatischer Widerspruch entstehen, da Rasse als Merkmal in anderen Rechtsnormen wie oben aufgeführt verankert ist.

Politische Parteien sollten jetzt nicht aktionistisch vorpreschen, sondern fachliche Beratungen von Wissenschaftler*innen, insbesondere Forscher*innen of Color, einholen, wie mit dem Merkmal Rasse im Grundgesetz umzugehen ist. Bundestag und Bundesregierung müssen vor allem die völkerrechtlichen Folgen berücksichtigen, die daraus resultieren können, dass Rasse in der Verfassung der Bundesrepublik „entnannt“ wird. Als Vertragsstaat von ICERD ist Deutschland verpflichtet, die effektive Umsetzung des Übereinkommens sicherzustellen. Diese Verpflichtung besteht auch für andere menschenrechtliche Verträge sowie für die Verträge und entsprechenden Richtlinien der Europäischen Union, in denen Rasse als Diskriminierungsmerkmal geführt ist.

Die Befürworter*innen der Streichung verkennen, dass Rassismus und die Vorstellung von Rasse nicht voneinander losgelöst werden können. Es sind zwei Seiten einer Medaille. Die bereits seit Jahrhunderten andauernden Zuschreibungsprozesse sowie die Erfahrungen von Segregation und Gewalt haben Identitäten und Denkmuster hervorgebracht, die rassialisierte Ungleichheit in der Rechtswirklichkeit zur Folge hatten und haben. Die Black Lives Matter Bewegung drückt aus, dass diese Realität kein Relikt der Vergangenheit ist, sondern, dass sie auch in unserer Gegenwart existiert und nicht mehr geleugnet werden kann. Rasse als juristisches Instrument, das diese Ungleichheit benennt und sichtbar macht, zu „entsorgen“, ist keine Handlung gegen den Rassismus. Deshalb gilt: Damit Schwarze Leben und die anderer rassisch markierter Gruppen in Deutschland zählen können, muss Rasse als geschütztes Diskriminierungsmerkmal im Grundgesetz verankert bleiben.

 

Offener Brief zur Berücksichtigung von Frauen in der Rechtswissenschaft

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Eine aktuelle Debatte um die fehlende Berücksichtigung von Frauen im “Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart” (JöR) hat erneut gezeigt: Die Sichtbarkeit weiblicher Wissenschaftlerinnen lässt, insbesondere im Öffentlichen Recht, noch immer zu wünschen übrig. Wir appellieren daher an Verlage und Herausgeber*innen: Räumt Rechtswissenschaftlerinnen endlich den Platz ein, den sie verdienen!

In jüngster Zeit lassen sich für die Sichtbarkeit von Rechtswissenschaftlerinnen durchaus Erfolge verzeichnen: Mit den Wahlen von Astrid Wallrabenstein und Ines Härtel zu Richterinnen am Bundesverfassungsgericht sind dort erstmals mehr Richterinnen (9) als Richter (7) im Amt. Auch wurde mit Doris König zum zweiten Mal eine Vizepräsidentin des Gerichts ernannt. Dies hat zweifellos eine starke Symbolkraft. Ein wichtiges Zeichen sendet auch die Nachwuchswissenschaft, die ihre alljährliche “Assistententagung” in Münster 2021 nunmehr unter dem neuen, inklusiven Namen “Junge Tagung Öffentliches Recht” abhalten wird. Sie unterstreicht damit, dass sie dieses Thema ernst nimmt.

All dies kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es bei der Repräsentanz von Frauen in Wissenschaft und Lehre nach wie vor viele Unzulänglichkeiten gibt. Dies zeigt sich schon bei den Hochschulprofessuren: 2018 lag der Frauenanteil bei gerade einmal 17,6% aller ordentlichen und Juniorprofessuren. Betrachtet man alleine ordentliche Professuren im Öffentlichen Recht, sind nur 16,43% der Lehrstühle von Frauen besetzt (Symbolbild: hier). 

Insbesondere jedoch sind Frauen – und damit auch deren Erfahrungshorizont – im wissenschaftlichen Diskurs unterrepräsentiert. Zwar zeigt auch hier die Nachwuchswissenschaft gute Entwicklungen; so betrug der Anteil weiblicher Diskutantinnen auf den “Assistententagungen” der letzten vier Jahre zwischen 38% und 50%. In der breiten Masse und insbesondere in jenen als besonders einflussreich geltenden Foren sieht es jedoch anders aus. Der aktuelle Band des JöR ist insoweit nur Beispiel für ein offenbar systemisches Problem. Wie eine zuletzt 2018 aktualisierte Auswertung juristischer Publikationsmedien zeigt, ist der Frauenanteil in zentralen öffentlich-rechtlichen Kommentaren, Zeitschriften und Handbüchern dramatisch gering. Der Anteil von Frauen in der Autorenschaft liegt demnach bei unter 11%, in der Herausgeberschaft sogar bei unter 5%. Der Anteil von Rechtswissenschaftlerinnen am akademischen Diskurs liegt demnach sogar noch deutlich unter deren institutioneller Repräsentanz. 

Die Gründe für diese signifikante Differenz sind vermutlich vielfältig. Wir sind uns auch bewusst, dass eine möglichst starke Beteiligung weiblicher Autorinnen eine langfristige Herausforderung darstellt. Dennoch sollte dieses Ziel bei Verlagen und in der Herausgeberschaft stärker in den Fokus gerückt werden. Insbesondere sollten Nachwuchswissenschaftlerinnen bei der Auswahl von Autoren*innen stärker und angemessen berücksichtigt werden.

Vor diesem Hintergrund möchten wir (junge) Rechtswissenschaftler*innen uns mit einem Appell an die Verlage sowie die Herausgeberinnen und (oftmals) Herausgeber wenden, denen trotz neuer Publikationsformate eine wesentliche Gatekeeper-Funktion im wissenschaftlichen Diskurs zukommt. Wir möchten sie auffordern, im Bewusstsein ihrer Verantwortung, die eigenen Routinen und Gewohnheiten bei der Anfrage und Auswahl von Beiträgen kritisch zu hinterfragen und auf eine angemessene Berücksichtigung weiblicher Autorinnen zu achten. Damit wollen wir uns solidarisch neben jene stellen, deren Arbeit ein größerer Raum im wissenschaftlichen Diskurs zustehen sollte.

All jene Kolleg*innen, die diesen Aufruf unterstützen möchten, können eine Mail an aufruf.rechtswissenschaft@gmail.com mit ihrem Namen und ihrer Funktion/Universität schreiben. Die Liste der Unterzeichnenden wird fortlaufend aktualisiert. 


Unterzeichnende (alphabetisch sortiert):

Akbarian, Samira (Goethe-Universität Frankfurt am Main)

Bäcker, Prof. Dr. Matthias (Johannes Gutenberg-Universität Mainz)

Bajrami, Shpetim (Bucerius Law School)

Bast, Prof. Dr. Jürgen (Justus-Liebig-Universität Gießen)

Berger, Carsten (Deutsches Forschungsinstitut für Öffentliche Verwaltung Speyer)

Bertram, Alice (Freie Universität Berlin)

Birkenkötter, Hannah (Humboldt-Universität zu Berlin)

Bredler, Eva (Westfälische Wilhelms-Universität Münster)

Brings-Wiesen, Tobias (Universität Köln)

Chiofalo, Valentina (Freie Universität Berlin)

Diestelhorst, Anne (Freie Universität Berlin)

Eschenhagen, Philipp (Bucerius Law School)

Farahat, Prof. Dr. Anuscheh (Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg)

Feil, Leonard Amaru (Bucerius Law School)

Fröhlingsdorf, Sarah (Deutsches Forschungsinstitut für Öffentliche Verwaltung Speyer)

Fröhlich, Wiebke (Goethe-Universität Frankfurt am Main)

Fründ, Frederike (Universität Hamburg)

Ganter, Jonas (Deutsches Forschungsinstitut für Öffentliche Verwaltung Speyer)

Geppert, Kerstin (Helmut-Schmidt-Universität)

Gerdes, Maria (Goethe-Universität Frankfurt)

Giere, Katrin (Universität Leipzig)

Goldberg, Dr. Katharina (Helmut-Schmidt-Universität Hamburg)

Greve, Ruth (Universität Trier)

Hailbronner, Prof. Dr. Michaela (Justus-Liebig-Universität Gießen)

Heidebach, Dr. Martin (Ludwig-Maximilians-Universität München)

Heldt, Amélie (Leibniz Institut für Medienforschung I Hans-Bredow-Institut)

Heppner, Charlotte (Humboldt-Universität zu Berlin)

Hong, Prof Dr. Mathias (Hochschule für öffentliche Verwaltung Kehl)

Huggins, Benedikt (Westfälische Wilhelms-Universität Münster)

Jürgensen, Sven (Rechtsreferendar/Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf)

Karamehmedovic, Ademir (Bucerius Law School)

Keesen, Jan (EBS Universität für Wirtschaft und Recht)

Kemmerer, Alexandra (Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht)

Kienle, Thomas (Deutsche Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer)

Kießling, Dr. Andrea (Ruhr-Universität Bochum)

Klatt, Matthias K. (Universität Hamburg)

Kolain, Michael (Deutsches Forschungsinstitut für Öffentliche Verwaltung Speyer)

Lautsch, Eva Ricarda (Ruhr-Universität Bochum)

Lischewski, Isabel (Rechtsreferendarin/Westfälische Wilhelms-Universität Münster)

Lohse, Prof. Dr. Eva Julia (Universität Bayreuth)

Lops, Claire (Rechtsreferendarin)

Lorenz, Dr. Paul (Goethe-Universität Frankfurt am Main)

Lührs, Lisa-Marie (Justus-Liebig-Universität Gießen)

Mangold, Prof. Dr. Anna Katharina (Europa-Universität Flensburg)

Markard, Prof. Dr. Nora (Westfälische-Wilhelms Universität Münster)

Martini, Dr. Stefan (Christian-Albrechts-Universität zu Kiel)

Marosi, Johannes (Johannes Gutenberg-Universität Mainz)

Masche, Cora (Christian-Albrechts-Universität zu Kiel)

Matz-Lück, Prof. Dr. Nele (Christian-Albrechts-Universität zu Kiel)

Maurer, Marion (Vorsitzende der Regionalgruppe Brüssel des Deutschen Juristinnenbundes)

Menzel, Anna (Goethe-Universität Frankfurt am Main)

Milas, Max (Westfälische Wilhelms-Universität Münster)

Müller-Mall, Sabine Prof. Dr. (Technische Universität Dresden)

Neumann, Katja (Deutsches Forschungsinstitut für Öffentliche Verwaltung Speyer)

Niehaus, Manuela (Universität Hamburg)

Oehl, Maximilian (Rechtsreferendar)

Pichl, Maximilian (Goethe-Universität Frankfurt am Main)

Potthast, Keno C. (Leibniz Institut für Medienforschung I Hans-Bredow-Institut)

Ramson, Lasse (Universität Bremen)

Rapp, Michael (Ludwig-Maximilians-Universität München)

Sacksofsky, Prof. Dr. Ute (Goethe-Universität Frankfurt am Main)

Santos, Victoria Guijarro (Westfälische-Wilhelms Universität Münster)

Schatz, Valentin (Universität Hamburg)

Scheid, Christopher (Goethe-Universität Frankfurt am Main)

Schmees, Johannes (Leibniz Institut für Medienforschung I Hans-Bredow-Institut)

Schröter, Nico (Bucerius Law School)

Schubert, Sophie (Freie Universität Berlin)

Seeliger, Paul (Deutsches Forschungsinstitut für Öffentliche Verwaltung Speyer)

Steinbeis, Maximilian (Verfassungsblog)

Stix, Carolin (Gleichstellungsrätin/Wiss. Mitarbeiterin Goethe-Universität Frankfurt am Main)

Tiedeke, Anna Sophia (Leibniz Institut für Medienforschung I Hans-Bredow-Institut/ Humboldt-Universität zu Berlin)

Tormin, Miriam (Bucerius Law School)

Tuchtfeld, Erik (Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht)

Valentiner, Dana-Sophia (Helmut-Schmidt-Universität)

von Achenbach, Jun.-Prof. Dr. Jelena (Justus-Liebig-Universität Gießen)

Völzmann, Dr. Berit (Goethe-Universität Frankfurt am Main)

Weber, Dr. Ruth (Humboldt-Universität zu Berlin)

Wersig, Maria Prof. Dr. (Fachhochschule Dortmund)

Weinzierl, Quirin (Deutsches Forschungsinstitut für Öffentliche Verwaltung Speyer)

Wittner, Florian (Leibniz Institut für Medienforschung I Hans-Bredow-Institut)

Zagst, Lena (Doktorandin / justizpolitische Sprecherin der GRÜNEN Bürgerschaftsfraktion Hamburg)

 


Service am Montag

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Stellen

2 Wissenschaftliche Mitarbeiter/innen, 50 %, befristet als Karenzvertretung, Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Rechtsvergleichung (Prof. Dr. Ute Sacksofsky), an der Goethe-Universität Frankfurt, Bewerbungsfrist: 28.7.2020

3 Doktorand/innen, 3 Wissenschaftliche Referent/innen, 2 Senior Researcher, 60 %/100 %/100 %, befristet für 3/2/5 Jahre, Abteilung für Öffentliches Recht (Prof. Dr. Ralf Poscher), am Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht Freiburg i.Br., Bewerbungsfrist: 15.8.2020/30.8.2020

Akademische/r Mitarbeiter/in, 50 %, befristet für 2 Jahre, Institut für Öffentliches Recht, Abteilung Verfassungsrecht (Prof. Dr. Johannes Masing), Bewerbungsfrist: 15.8.2020

Universitätsassistent/in (Dissertationsstelle), 75 %, befristet für 3 Jahre, „Dynamiken von Ungleichheit und Differenz im Zeitalter der Globalisierung“, dzt. Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie, an der Universität Innsbruck, Bewerbungsfrist: 27.8.2020

Wissenschaftliche/r Mitarbeiter/in, Postdoctoral Research Fellow, 50 %-100 %, befristet für 3 Jahre, „Legal Transfer in the Common Law World“ (Prof. Stefan Vogenauer), am Max-Planck-Institut für Europäische Rechtsgeschichte in Frankfurt, Bewerbungsfrist: 31.8.2020

Wissenschaftliche/r Angestellt/er, 65 %, befristet für 3 Jahre, „Risk Sharing in the Euro Area“, Lehrstuhl für Staats- und Verwaltungsrecht, Europarecht und Völkerrecht (Prof. Dr. Martin Nettesheim), an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen, Bewerbungsfrist: 31.8.2020

Lehrkraft für besondere Aufgaben, 100 %, unbefristet, Institut für Erziehungswissenschaft des Fachbereichs Erziehungs- und Kulturwissenschaften, an der Universität Osnabrück, Bewerbungsfrist: 31.8.2020

Das finden wir spannend

Bitte woher haben Sie meine Handynummer? Die Nutzung personenbezogener Daten aus Corona-Kontaktlisten zur Strafverfolgung

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Von JUDITH SIKORA

Stellt euch vor, das Telefon klingelt. „Hallo, hier spricht die Polizei. Wir haben Ihre Handynummer von einer Corona-Kontaktliste. Wir rufen an, weil wir Sie als Zeuge* in einem Strafverfahren vernehmen möchten.“ So oder so Ähnliches dürfte sich letzte Woche in Hamburg abgespielt haben. Jeder kennt es derzeit aus eigener Anschauung: Wer in Corona-Zeiten ein Restaurant oder Café besucht, muss seine Kontaktdaten angeben, damit Infektionsketten nachverfolgt werden können. In Hamburg verschaffte sich nun eine Polizeibehörde Zugang zu einer Corona-Kontaktliste und nutzte die Kontaktdaten, um eine Straftat aufzuklären. Die Kontaktdaten stellen personenbezogene Daten dar, die nach landläufiger Meinung nur für Zwecke des Gesundheitsschutzes verwendet werden dürfen – oder etwa nicht?

Die Covid19-Verordnungen der Länder sehen in unterschiedlichem Ausmaß vor, dass Daten von Personen, die Dienstleistungen in Anspruch nehmen, zur Nachverfolgbarkeit sog. Infektionsketten gespeichert werden. Nicht untersucht wird die Zulässigkeit der Speicherung als solche rechtlich (vgl. nur hier). Es geht vielmehr um die Frage, ob die Polizei zur Strafverfolgung auf die Daten zugreifen durfte.

Kontaktlisten in der Gastronomie

Bei den in den Kontaktlisten einzutragenden Daten handelt es sich unproblematisch um personenbezogene Daten i.S.d. Datenschutzrechts. Beispielsweise werden nach § 7 Abs. 1 HmbSARS-CoV-2-EindämmungsVO Kontaktdaten, d.h. der Name, die Wohnanschrift und eine Telefonnummer des Gastes erhoben und zusammen mit der Angabe des Datums und der Uhrzeit vier Wochen aufbewahrt (§ 7 Abs. 1 Nr. 2 HmbSARS-CoV-2-EindämmungsVO). Ob es sich darüber hinaus um besonders geschützte Gesundheitsdaten i.S.d. Art. 9 DSGVO handelt, mag man diskutieren, ist i.E. aber jedenfalls für die Kontaktlistendaten zu verneinen. Richtig ist zwar, dass zum Abfragezeitpunkt unklar ist, ob sie Tatsachen in Bezug auf eine Covid19-Infektion beinhalten. Jedoch wird die Einstufung des Betroffenen als Kontaktperson erst durch die Kombination weiterer Daten, insbesondere, dass sich eine infizierte Person in der Nähe aufgehalten hat, erreicht. Daher genügt es, wenn erst die konkrete Abfrage einer Behörde, bei der diese Daten vorliegen, die erhöhten Anforderungen des Art. 9 Abs. 2 DSGVO erfüllt.

Zweckbindung der Kontaktlistendaten

Die Kontaktlisten müssen bei einem bestätigten Infektionsfall an die zuständigen Gesundheitsbehörden herausgegeben werden. Dies sehen gegenwärtig die Coronaverordnungen aller Bundesländer vor (bspw. § 7 Abs. 1 Nr. 2 HmbSARS-CoV-2-EindämmungsVO). Da die Verarbeitung dem Erhebungszweck entspricht, handelt es sich um eine zweckkonforme Verarbeitung.

Nur wenige Covid19-Verordnungen enthalten Regelungen zur Zweckbindung der Kontaktlistendaten. Beispielhaft ist § 1 Abs. 8 S. 7-8 der 10. CoronaVO des Landes Rheinland-Pfalz zu nennen. Danach kann das zuständige Gesundheitsamt zur Erfüllung seiner Aufgaben nach dem InfSchG und dieser VO die Übermittlung der Daten aus den sog. Kontaktlisten verlangen. Eine Verarbeitung der Daten zu anderen Zwecken ist ausgeschlossen. Auch ohne explizite Normierung ergibt sich die Zweckbindung aus dem allgemeinen Datenschutzrecht, insbesondere aus Art. 5 Abs. 1 lit. b) DSGVO, § 23 BDSG und entsprechenden Vorschriften der Landesdatenschutzgesetze. Jedoch kennt der sog. Zweckbindungsgrundsatz wie jeder juristische Grundsatz Ausnahmen. Zweckänderungen sind daher unter bestimmten Voraussetzungen möglich. Dieser Maßstab ist zu bestimmen.

Anforderungen an die zweckändernde Verarbeitung zu Strafverfolgungszwecken

Da es sich bei einer Zweckänderung um einen Eingriff in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung handelt, bedarf es stets einer formellen Rechtsgrundlage. Eine solche stellt nach überwiegender, wenn auch umstrittener Auffassung die strafprozessuale Ermittlungsgeneralklausel dar. Nach §§ 161 Abs. 1 S. 1, 163 Abs. 1 S. 2 StPO dürfen die Polizei und Staatsanwaltschaft Ermittlungen jeder Art vornehmen, insbesondere um Auskunft ersuchen, soweit dies zur Strafverfolgung erforderlich ist. Die Datenerhebungsgeneralklausel zur Datenerhebung wird nur über das explizite Tatbestandsmerkmal der Erforderlichkeit und – ungeschrieben – durch die Verhältnismäßigkeit begrenzt.

Nach dem Doppeltürmodell (BVerfGE 130, 151 Rz. 123) bedarf es nicht nur einer Eingangsnorm auf Seiten der abfragenden Stelle, sondern auch einer entsprechende Erlaubnisnorm auf Seiten der übermittelnden Stelle. Eine solche ergibt sich aus § 23 Abs. 1 Nr. 4 BDSG (und entsprechender Normen der LDSGe). Sie setzt voraus, dass die Daten zur Erfüllung der Aufgaben einer öffentlichen Stelle verarbeitet werden und u.a. zur Verfolgung von Straftaten erforderlich sind. Damit entspricht der Maßstab dem der StPO.

Kein anderer Maßstab aus Unionsrecht

Ein anderer Maßstab ergibt sich auch nicht aus EU-Recht. Keine Anwendung findet die sog. JI-RL (RL 2016/680), obwohl es um Strafverfolgung geht. Denn die JI-RL regelt nur die Verarbeitung von zur Strafverfolgung erhobenen Daten. Die Zweckänderung von zu anderen Zwecken erhobenen Daten zur Strafverfolgung richtet sich nach der DSGVO, und zwar nach Art. 6 Abs. 4 DSGVO.

Art. 6 Abs. 4 DSGVO erlaubt Zweckänderungen entweder aufgrund einer Einwilligung des Betroffenen, bei Zweckvereinbarkeit oder wenn die Verarbeitung auf einer Rechtsvorschrift der Union oder der Mitgliedstaaten, die in einer demokratischen Gesellschaft eine notwendige und verhältnismäßige Maßnahme zum Schutz der in Art. 23 Abs. 1 genannten Ziele darstellt, beruht. Eine Einwilligung wird regelmäßig ebenso wenig vorliegen wie die Zweckkonformität angesichts der unterschiedlichen Zwecke Gesundheitsschutz und Strafverfolgung. Bleibt daher nur eine Rechtsgrundlage, die auch der Verfolgung von Straftaten i.S.d. Art. 23 Abs. 1 lit. d) DSGVO dienen kann. Eine solche stellen die §§ 161 Abs. 1 S. 1, 163 Abs. 1 S. 2 StPO und § 23 Abs. 1 Nr. 4 BDSG dar, sodass es auf die Erforderlichkeit und die Verhältnismäßigkeit der Zweckänderung ankommt.

Im Hamburger Fall ging es um einen Mann, der Passanten auf der Straße mit einem Messer bedrohte. Dieser wurde später festgenommen. Um unter den Gästen Augenzeugen für den Vorfall zu finden, nutzte die Polizei die Kontaktdatenliste des Restaurants, vor dem sich der Vorfall abgespielt hatte.

Erforderlichkeit des Zugriffs

Der Zugriff auf die Daten müsste erforderlich, d.h. notwendig sein, um das angestrebte Ziel zu erreichen und zugleich das mildeste Mittel darstellen. Maßgeblich ist dafür u.a., ob genau dieses Beweismittel notwendig ist. Zum einen können andere Beweismittel zur Verfügung stehen. Zur abschließenden Beurteilung fehlen im Hamburger Vorfall Angaben. Denkbar ist jedoch, dass der Beschuldigte die ihm vorgeworfenen Taten zugibt oder dass das Geschehen auf Videoaufnahmen dokumentiert ist, wie dies gerade in St. Pauli an vielen Stellen der Fall ist. Angesichts der starken Polizeipräsenz in St. Pauli haben möglicherweise Streifenpolizisten das Geschehen beobachtet. Schließlich wäre als milderes Mittel auch daran zu denken, potenzielle Zeugen zunächst durch einen öffentlichen Aufruf zu bitten, sich bei der Polizei zu melden.

Zum anderen ist hinsichtlich des Tatvorwurfs genau zu prüfen, ob der Sachverhalt weiter aufgeklärt werden muss. Lief der Mann mehrere Stunden lang durch die Stadt und bedrohte an verschiedenen Orten Passanten, so stellt sich die Frage, ob alle Taten bis ins kleinste Detail aufgeklärt werden müssen. Dies ist insb. bei psychisch verwirrten Täter, bei denen eine Unterbringung im Raum steht, zu bedenken.

Verhältnismäßigkeit des Zugriffs

Schließlich muss der Zugriff auch verhältnismäßig sein. Dies ist im Rahmen einer Abwägung zwischen den legitimen Strafverfolgungsinteressen des Staates und den Interessen der betroffenen Personen zu ermitteln. Auf Seiten der Zweckänderung kommt es maßgeblich auf das Gewicht der zu verfolgenden Straftat und der Bedeutung des Beweismittels im konkreten Fall an. Hier handelte es sich um den Vorwurf einer versuchten gefährlichen Körperverletzung – zwar in mehreren Fällen, jedoch wurde niemand verletzt. Der Beschuldigte wurde gefasst und befindet sich seitdem in Untersuchungshaft. Der Sachverhalt ist zumindest in groben Zügen aufgeklärt. Das Strafverfolgungsinteresse ist daher gering.

Auf der anderen Seite stehen Interessen der betroffenen Personen auf der Liste, von einer Zweckänderung ihrer Daten und auch von drohenden Anschlussmaßnahmen verschont zu bleiben. Die Heranziehung als Zeuge in einem Strafverfahren ist nicht mit starken Grundrechtseingriffen erhoben. Anders würde sich die Situation jedoch darstellen, wenn der potenzielle Zeuge selbst ins Visier der Ermittlungsbehörden zu geraten drohen würde. Dafür bestanden hier jedenfalls keine Anhaltspunkte, sodass der Eingriff sich bislang als ebenfalls gering darstellt. Jedoch erfährt der Datenschutz eine objektive Verstärkung. Nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG, des EGMR und des EuGH sind außerdem die von der Datenverarbeitung ausgehenden Einschüchterungseffekte auf die Allgemeinheit miteinzubeziehen. Diese treten hier verstärkend hinzu. Denn bereits jetzt machen sich Datenschutzbeauftragte (hier und hier) wie Bürger und Presse gleichermaßen Sorgen, dass das Vorgehen der Hamburger Polizei das Vertrauen der Bürger in die Sicherheit ihrer Daten untergräbt. Dies könne sich auf sowohl die – freiwillige – Nutzung der sog. Corona-App auswirken als auch zu einem verstärkten „Selbstdatenschutz“ führen, d.h. dass unrichtige Daten in die Kontaktlisten eingetragen werden. Dies könnte aber die Effektivität der Nachverfolgbarkeit der Infektionsketten insgesamt torpedieren.

Fazit

Festzuhalten ist daher, dass auch die personenbezogenen Daten aus Corona-Kontaktlisten den allgemeinen Regeln zur Zweckänderung unterliegen. Die Daten aus Kontaktdatenlisten dürfen zur Strafverfolgung verwendet werden, wenn sie im Einzelfall zur Strafverfolgung erforderlich und die Zweckänderung verhältnismäßig sind. Angesichts der damit verbundenen Verunsicherung der Bevölkerung sind strenge Anforderungen an die Schwere der Straftat und die Beweisnot zu stellen.

Ob die Zweckänderung im Hamburger Vorfall rechtmäßig war, kann aufgrund fehlender Angaben nicht abschließend beurteilt werden. Die Verhältnismäßigkeit einer solchen Zweckänderung anlässlich des Verdachts einer versuchten gefährlichen Körperverletzung, wenn der Täter bereits in U-Haft sitzt, ist jedoch stark zu bezweifeln. Insbesondere muss das objektive Gewicht des Datenschutzes in der Abwägung ausreichend berücksichtigt werden. Konkret sollten sich die Hamburger Polizei und Staatsanwaltschaft die mittel- und langfristigen Konsequenzen einer solchen Ermittlungspraxis in der Bevölkerung bewusst machen. Welche Bedeutung die Zugriffsrechte von Behörden auf bei Privaten gespeicherte Daten haben, wurde letzte Woche in der Entscheidung des EuGH zum US-EU-Privacy Shield erneut deutlich. U.a. weil die weiten Zugriffsbefugnisse amerikanischer Behörden auf die aus der EU übermittelte Daten nicht auf das zwingend erforderliche Maß beschränkt seien (EuGH, Schrems II, Rz. 176-184), wurde der Beschluss 2016/1250 für ungültig erklärt. Angesichts der Grundrechtsrelevanz sollten die Verordnungsgeber reagieren und die „Ausgangstür“ der Verwendung von Coronakontaktlistendaten ganz oder zumindest ein Stück weit schließen.

 

*Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird das generische Maskulinum verwendet. Gemeint sind jedoch stets alle Geschlechter.

 

Zitiervorschlag: Judith Sikora, Bitte woher haben Sie meine Handynummer? Die Nutzung personenbezogener Daten aus Corona-Kontaktlisten zur Strafverfolgung, JuWissBlog Nr. 103/2020 v. 21.7.2020, https://www.juwiss.de/103-2020/

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Urteil zum Paritätsgesetz in Thüringen: Kein großer Wurf

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Von ALEXANDER HOBUSCH

Der Thüringer Verfassungsgerichtshof hat das Paritätsgesetz für verfassungswidrig erklärt. Obwohl dem Gericht im Ergebnis zuzustimmen ist, überzeugt seine Argumentation nicht. Das Gericht hätte die Verfassungswidrigkeit der Regelung nicht allein mit historischen Erwägungen begründen dürfen.

Vergangenen Mittwoch hat der Thüringer Verfassungsgerichtshof das Thüringer Paritätsgesetz für verfassungswidrig und nichtig erklärt. Die Entscheidung ist an sich nicht weiter überraschend, das Thüringer Paritätsgesetz war handwerklich weit schlechter gemacht als die Brandenburger Regelung. Die Entscheidung des Gerichts fiel dabei mit 6 zu 3 Stimmen dennoch vergleichsweise knapp aus. Die Begründung des Gerichts ist aber inhaltlich nicht überzeugend.

Vielzahl von Beeinträchtigungen

Lehrbuchartig prüft das Gericht die Beeinträchtigung der Freiheit und Gleichheit der Wahl und kommt zu dem richtigen Ergebnis, dass beide sowohl in aktiver wie in passiver Hinsicht betroffen sind. Weiterhin bejaht es auch einen Eingriff in die Chancengleichheit der Parteien sowie der Programm- und Betätigungsfreiheit als Ausprägungen der Parteienfreiheit.

Rechtfertigung durch Art. 2 II 2 ThürVerf?

Im Anschluss sieht es zutreffend den Grundsatz demokratischer Repräsentation und die Absicherung der Integrationsfunktion der Wahl als keine tauglichen Rechtfertigungsgründe an. Die Erörterung gelangt dann relativ schnell zu Art. 2 II 2 ThürVerf, welcher einen weitergehenden Inhalt hat als der in Zusammenhang mit Paritätsgesetzen oftmals bemühte Art. 3 II 2 GG und u.a. das Land verpflichtet, „die tatsächliche Gleichstellung von Frauen und Männern in allen Bereichen des öffentlichen Lebens durch geeignete Maßnahmen zu fördern und zu sichern“. Hier wie dort wird in der Vorschrift im Ergebnis ein Fördergebot als Staatszielbestimmung gesehen, welches kein subjektives Recht verleiht. Das Gericht geht davon aus, dass die Vorschrift als Rechtfertigung für Fördermaßnahmen auch im Bereich des Wahlrechts in Betracht kommt und begründet dies vor allem historisch. Hier hätte es sich mit den in der Literatur vorgebrachten Bedenken in Bezug auf eine Anwendung im Wahlrecht auseinandersetzen müssen, denn ob im streng formalen und damit inhaltlich- wie geschlechtsneutral ausgestalteten Wahlrecht eine Differenzierung nach Geschlechtern denkbar ist, bedarf jedenfalls näherer Erläuterung. Daneben ist in der Literatur anerkannt, dass das (ähnliche) Fördergebot des Art. 3 II 2 GG nicht dazu in der Lage ist, die Bestenauslese aus Art. 33 II GG auch nur einzuschränken (vgl. nur Kunig, in v. Münch/Kunig, GG, 6. Auflage, Art. 3 Rn. 174). Warum die Wahlrechtsgleichheit hier weniger Schutz verdient als Art. 33 II GG, ist jedenfalls nicht ohne weiteres einzusehen (Morlok/Hobusch, NVwZ 2019, 1734, 1737).

Anwendbar, aber keine Ermächtigung für Quoten

Trotz der grundsätzlichen Anwendbarkeit kommt das Gericht durch Auslegung von Wortlaut und unter Betrachtung der Entstehungsgeschichte zu dem an sich zutreffenden Ergebnis, die Vorschrift sei keine Ermächtigung für starre Quoten. Dabei beruft es sich bei der Wortlautauslegung darauf, dass in Anbetracht der Anzahl der beeinträchtigten Rechte, ihrer Bedeutung und der Intensität „erhöhte Anforderungen an Klarheit und Aussagekraft“ zu stellen seien. Das ist methodisch zweifelhaft. Bei der Extrahierung des Bedeutungsgehaltes aus der Norm mittels Auslegung spielt weder die Anzahl der Beeinträchtigungen, noch die Intensität eine Rolle. Weiterhin ist die Anzahl der Beeinträchtigungen in der gesamten Prüfung kein taugliches Kriterium. Besonders kritisch ist zu sehen, dass das Gericht die hohe Intensität lediglich behauptet und nicht näher darlegt.

Über die historische Argumentation, der Verfassunggeber habe keine Quoten erlauben wollen, gelangt das Gericht dann dazu, dass Art. 2 II 2 ThürVerf keine taugliche Ermächtigung für starre Quoten sei. Bei der ähnlichen Vorschrift des Art. 3 II 2 GG lässt sich ein ähnlicher Wille des Verfassunggebers nachweisen. In den Bericht der Verfassungskommission, welcher zu Anfügung von Art. 3 II 2 GG geführt hat, heißt es dazu unmissverständlich: „Es bestand Übereinstimmung darüber, daß diese Bestimmung eine Frauenförderung in Gestalt sog. starrer Quoten nicht gestattet.“ (BT-Drs., 12/6000, S. 50).

Insoweit ist die Ansicht des Gerichts, dass auf das Fördergebot keine Paritätsgesetzgebung gestützt werden kann, sicherlich richtig. Die Argumentation in diesem Punkt ist aber methodisch nicht einwandfrei.

Art. 3 II 2 GG wird ausgeblendet

Alleine darauf aber dann die Ablehnung der Rechtfertigung zu stützen, ist zu kurz gegriffen. Auch wenn das Gericht meint, Art. 2 II 2 ThürVerf sei weitergehender als Art. 3 II 2 GG, hätte es letztgenannte Vorschrift dennoch prüfen müssen, weil die Argumentation bei Art. 2 II 2 ThürVerf vor allem um den Willen des Thüringer Verfassunggebers und den Wortlaut kreist. Diese Erwägungen sind nicht auf das Grundgesetz übertragbar und führen zu keinem Ausschluss von Art. 3 II 2 GG. Ein Schluss a maiore ad minus ist hier nicht denkbar, auch die in den Augen des Gerichts weniger weit reichende Norm hätte geprüft werden müssen.

Dann hätte sich das Gericht etwa zu der Problematik verhalten müssen, ob Art. 3 II 2 GG Frauenfördermaßnahmen im Wahlrecht rechtfertigen kann, ob überhaupt „bestehende Nachteile“ im Sinne der Norm für Frauen existieren und ob die Wahlentscheidung des Bürgers einen solchen Nachteil darstellen kann (ablehnend Hobusch: Denn der zuletzt gesunkene Frauenanteil etwa in Thüringen geht auf das Erstarken der männlich geprägten AfD zurück.

Verhältnismäßigkeit fehlt völlig

Das Gericht nutzt die Gelegenheit nicht, das Urteil mit Hilfserwägungen zu stützen, sondern belässt es bei der Ablehnung von Art. 2 II 2 ThürVerf. Sinnvoll wäre es gewesen, hilfsweise die Verhältnismäßigkeit zu untersuchen und aufzuzeigen, dass das Gesetz auch deshalb materiell verfassungswidrig ist (ausführlichere Erörterung etwa hier. Denn die Beeinträchtigungen sind enorm: Frauen- oder Männerparteien werden mangels Ausnahmen faktisch verboten. Die Intensität steht daneben in keinen Verhältnis zur Zweckerreichung: Die Quotierung zielt nur auf die Landeslisten ab, dabei sind die bereits deutlich weiblicher besetzt als die Parteien (umfassende empirische Auswertung bei Morlok/Hobusch, THürVBl 2019, 282, 285 f.). Die wahre Ursache ist der viel zu geringe Frauenanteil in den Parteien, der durch die Quote für die Landeslisten nicht gesteigert wird.

Keine Stellung hat das Gericht zu den handwerklichen Fehlern genommen. Das Gesetz ermöglichte zwar Personen mit Geschlechtseintrag „divers“, auf jedem Listenplatz zu kandidieren, sah aber keine Regelung für den ebenfalls möglichen Fall vor, dass der Geschlechtseintrag offen bleibt (also Personen ohne Geschlechtseintrag). Hierin liegt eine offensichtliche Verletzung der Wahlrechtsgleichheit.

Ausblick: Hoffnungen auf Brandenburg

Insgesamt leidet das Urteil, obwohl das Ergebnis zutreffend ist, an diversen inhaltlichen Schwachstellen. Das Gericht hat ohne Grund das Thema argumentativ nicht ausgeschöpft, vieles ungesagt gelassen und sich zu stark auf die historische Auslegung von Spezialvorschriften der Landesverfassung konzentriert. Insbesondere Erwägungen zu Art. 3 II 2 GG und zur Verhältnismäßigkeit wären dringend notwendig gewesen. Das Urteil kann so für kommende Entscheidungen zu Paritätsgesetzen nur eingeschränkt als Maßstab genommen werden. Insoweit ruhen die Hoffnungen auf dem Brandenburger Landesverfassungsgericht, sich zu den in Thüringen ausgesparten Punkten ausführlicher zu äußern.

 

Zitiervorschlag: Alexander Hobusch, Urteil zum Paritätsgesetz in Thüringen: Kein großer Wurf, JuWissBlog Nr. 104/2020 v. 22.7.2020, https://www.juwiss.de/104-2020/

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Post aus Münster: 9 Tipps für ein starkes Exposé

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Vom Organisationsteam JTÖR Münster 2021

Eure Exposés sind gut – mit diesen geheimen Profi-Tipps werden sie perfekt. Das ist natürlich…

…übertrieben, aber wir freuen uns über Eure Aufmerksamkeit! Denn der Call for Exposés für die kommende Junge Tagung Öffentliches Recht (JTÖR) 2021 in Münster ist online und als Organisationsteam hoffen wir auf zahlreiche Einsendungen zum Thema „Zugang zu Recht“.

Wir verstehen unter einem Exposé primär den Vorschlag eines Beitrags für unsere Tagung. „Exposé“ ist aber kein eindeutig definierter Begriff. Der Duden schreibt ihm gleich drei Bedeutungen zu: 1. „schriftlich niedergelegte, erläuternde Darstellung“, 2. „Zusammenstellung, Übersicht, Plan“, 3. „Handlungsskizze, besonders als Vorstufe eines Drehbuchs“. Wie aber soll man etwas erläuternd darstellen, das noch gar nicht fertig, sondern in Planung ist?

Dieser Werkstattbericht soll etwas Licht ins Dunkel bringen und festhalten, was wir uns unter einem gelungenen Exposé vorstellen. Damit wollen wir unsere Kriterien transparent machen und allen, die daran interessiert sind, etwas Orientierung bieten. Doch zuerst noch drei kleine Hinweise:

Selbstverständlich ist keine unserer Empfehlungen zwingend und es mag gute Gründe geben, davon abzuweichen. Man ist also nicht schon „raus“, wenn man etwas anders macht als hier empfohlen.

Neben den „klassischen“ Referaten wird es auf der 61. JTÖR auch ein „diskursiveres“ Format mit zehnminütigen Impulsvorträgen zu zwei bestimmten Themen geben. Wenn Ihr Euch für dieses neue Format bewerbt, sollte Euer Exposé natürlich möglichst bestimmt umreißen, wie Ihr Euch zu den Fragen des Panels verhalten möchtet. Ansonsten gelten unsere Hinweise aber für beide Formate.

Bitte kontaktiert uns, wenn Ihr Fragen habt! Wir freuen uns auch sehr über Kommentare und Ergänzungsvorschläge für die nachfolgende Auflistung.

1. Es darf unfertig sein

Abgesehen von Ausnahmefällen wird der Beitrag, den ihr in Eurem Exposé für die JTÖR vorschlagt, erst noch zu schreiben sein. Das weiß natürlich auch das Auswahlkomitee. Natürlich könnt Ihr auch aus fertiger Arbeit schöpfen, etwa indem Ihr ein (Teil-)Ergebnis oder einen Gedanken aus Eurer Dissertation berichtet. Aber wir erwarten nicht, dass Ihr uns im Exposé schon die Zusammenfassung eines fertigen Beitrags präsentiert.

2. Konkrete Fragestellung

Was ein Exposé hingegen schon beinhalten sollte, ist die Formulierung einer Fragestellung. Sehr willkommen sind uns konkrete Fragestellungen. Denn sie lassen hoffen, dass sich auch die Diskussion nicht in Abstraktionen verliert. Bedenkt aber auch, dass wir auf der Tagung zwar alle Vorträge gemeinsam im Plenum besprechen, unsere jeweilige Forschungsfelder aber speziell und ausdifferenziert sind. Die Diskussion profitiert also davon, wenn eine spezielle Frage thematisch verortet und kontextualisiert wird. Dies ermöglicht zudem in einem nächsten Schritt darzustellen, welche allgemeineren Probleme sich hinter einer spezielleren Frage verbergen.

3. Antwort

Auch sollte das Exposé Auskunft darüber geben, wie Ihr mit der Fragestellung umzugehen gedenkt. Das umfasst eine mögliche Antwort auf die Frage. An der Antwort, die Ihr im Exposé umreißt, werdet Ihr natürlich nicht festgehalten werden. Aber die Formulierung einer möglichen Antwort gibt schon einmal eine Richtung vor.

4. Überzeugungsstrategie

Außerdem sollte das Exposé Hinweise darauf enthalten, wie Ihr Eure Zuhörerschaft überzeugen wollt, mithin eine Ankündigung Eurer Argumentationsstrategie enthalten. Was ist Euer methodischer Zugriff? Arbeitet Ihr zum Beispiel anhand von Rechtsprechung? Führt Ihr ein historisches Argument? Bezieht Ihr Euch auf eine außerjuridisches Wissen oder eine bestimmte Theorie? Welche Argumente werdet Ihr in Eurem Beitrag vorstellen und bewerten? Gibt es bestimmte Literatur, auf die Ihr Euch im Wesentlichen beziehen werdet?

5. Umgang mit Nachweisen

Damit sind wir auch bei der immer wieder auftauchenden Frage nach Literaturnachweisen. Ein Exposé ist kein fertiger Beitrag und bedarf nicht der gleichen Dichte an Belegen. Literaturangaben sind daher optional und erfüllen primär einen anderen Zweck: Sie signalisieren, dass die Autor*in wesentliche Werke kennt, und sie geben dem Auswahlkomitee eine Idee davon, in welche Richtung sich der Beitrag inhaltlich entwickeln könnte. Die Nennung von Literatur erlaubt der Autor*in auch, zu zeigen, von welchen Ansätzen sich der eigene Beitrag womöglich abgrenzen soll.

6. Originalität

Was wünschen wir uns noch? Natürlich freuen wir uns über originelle Einsendungen. Die Originalität kann sich in einer ungewöhnlichen Frage, einer ungewöhnlichen Antwort oder einer ungewöhnlichen Argumentationsstrategie niederschlagen. Originalität ist aber kein Selbstzweck. Sie sollte also auch nicht erzwungen wirken. Außerdem sollte das Auswahlkomitee zuversichtlich sein dürfen, dass die Autor*in die im Exposé gegebenen Versprechen auch einhalten kann.

7. Mut zur Lücke

Ansonsten gilt für das Exposé (wie für den Beitrag): Mut zur Lücke! Das auf der JTÖR keine erschöpfenden Themenbearbeitungen angeboten werden, ist allen klar. Dafür ist schon die Zeit zu knapp bemessen. Versucht lieber, Euer Argument in der Tiefe zu entwickeln, als in der Breite abzusichern.

8. Diskussionspotential

Denkt vor allem daran, dass die JTÖR von der Diskussion lebt. Als Auswahlkomitee müssen wir uns darüber Gedanken machen, welche Beiträge eine interessante Diskussion versprechen. Daher wird das Interesse besonders von kritischen Beiträgen geweckt. Ein Exposé darf auch Ideen dazu enthalten, wie sich der eigene Beitrag zum Oberthema und anderen möglichen Beiträgen verhält.

9. Feedback einholen

Abschließend empfehlen wir unbedingt, dass Ihr Euch vor dem Absenden Eures Exposés mit einer Freund*in oder einer Kolleg*in besprecht. Holt Euch also vielleicht Feedback ein und tauscht Euch darüber aus, ob Ihr selbst das Exposé für die Tagung auswählen würdet.

Wir freuen uns sehr auf Eure Einsendungen und sind unheimlich gespannt!

 

Zitiervorschlag: Organisationsteam JTÖR Münster 2021, Post aus Münster: 9 Tipps für ein starkes Exposé, JuWissBlog Nr. 105/2020 v. 23.07.2020, https://www.juwiss.de/105-2020/.

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Service am Montag

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Forschungsreferent/in, 25%, befristet bis 31.12.2022, Drittmittelprojekt „Dark Pattern“ (Prof. Dr. Mario Martini), am Deutschen Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung Speyer, Bewerbungsfrist: 22.8.2020

Diplomassistent/in (Dissertationsstelle), 80-100%, Lehrstuhl für Europarecht, Völkerrecht und öffentliches Recht / Institut für Europarecht (Prof. Dr. Astrid Epiney), an der Universität Fribourg/Freiburg (Schweiz), Bewerbungsfrist: 31.8.2020

Wissenschaftliche Mitarbeiter/in, 100 %, befristet für 2 Jahre, Lehrstuhl für Medienrecht, Kulturrecht und öffentliches Recht (Prof. Dr. Matthias Cornils), an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz, Bewerbungsfrist: 31.10.2020

Mehrere Volljurist/innen, 60-100%, befristet/unbefristet, Behörde des Landesbeauftragten für den Datenschutz und die Informationsfreiheit Baden-Württemberg, Bewerbungsfrist: 14.8.2020

Calls

Call for Nominations, Mark Tushnet Prize in Comparative Law, Association of American Law Schools (AALS), Frist: 3.8.2020

Call for Papers, Works-in-Progress Workshop für Nachwuchswissenschaftler/innen von 8.-9.10.2020, ICON-S Deutschland, Frist: 15.8.2020

Das finden wir spannend

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Wiss. Mitarbeiter*in (75%), W1-Professur für Kriminologie, Strafrecht und Sicherheitsforschung im digitalen Zeitalter (Dr. Sebastian Golla), Universität Bochum.

Drei Wiss. Mitarbeiter*in, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Verwaltungsrecht, und Recht des E- Government oder Regulierung der Digitalwirtschaft (Prof. Dr. Tristan Barczak), Universität Passau. Bewerbungsfrist: 31.08.2020.

Wiss. Mitarbeiter*in (50%), Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Verwaltungslehre (Prof. Dr. Johannes Dietlein), Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Bewerbunsgfrist: 25.08.2020.

Referent*in, Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, insb. für die Abteilung Abteilung V „Verbraucherpolitik; Digitale Gesellschaft; Verbraucherrechtsdurchsetzung“. Bewerbungsfrist: 16.08.2020.

Drei Wiss. Mitarbeiter*in (65%), Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Recht der Digitalisierung (Prof. Dr. Thomas Wischmeyer), Universität Bielefeld. Bewerbungsfrist: 26.08.2020.

Vier Wiss. Mitarbeiter*in (50%), am Dekanat der Philipps-Universität Marburg. Bewerbungsfrist: 07.08.2020.

Wiss. Mitarbeiter*in (65%), am Forschungsbereich „Regelungsstrukturen und Regelbildung in digitalen Kommunikationsräumen“, Leibniz-Institut für Medienforschung | Hans-Bredow-Institut. Bewerbunsgfrist: 15.08.2020.

Calls

Call for Papers: 4th Young European Law Scholars Conference, ‘Back to Beginnings: Revisiting the Preambles of European Treaties‘ (20.-21.05.2020, Universität Zürich), Fristende: 15.10.2020.

Call for Abstracts, Works-in-Progress Workshop für Nachwuchswissenschaftler/innen des deutschen ICON-S Chapters. Fristende: 15.08.2020.

Das finden wir spannend

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Wiss. Mitarbeiter*in (65 % oder Vollzeit), Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie (Prof. Dr. Florian Meinel), Universität Würzburg, Projekt der Transkription und Hybridedition der Arbeits-Tagebücher des deutschen Staatsrechtlers und politischen Denkers Carl Schmitt (1888-1985). Bewerbungsfrist: 01.10.2020.

Wiss. Mitarbeiter*in (Teilzeit), Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Europarecht (Prof. Dr. Matthias Ruffert), Humboldt-Universität zu Berlin, Bewerbungsfrist: 27.08.2020.

Wiss. Mitarbeiter*in (50%), Institut für Umwelt- und Planungsrecht (Prof. Dr. Sabine Schlacke), Universität Münster, Bewerbungsfrist: 15.08.2020.

Drei Wiss. Mitarbeiter*in, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Verwaltungsrecht, und Recht des E- Government oder Regulierung der Digitalwirtschaft (Prof. Dr. Tristan Barczak), Universität Passau. Bewerbungsfrist: 31.08.2020.

Drei Wiss. Mitarbeiter*in (65%), Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Recht der Digitalisierung (Prof. Dr. Thomas Wischmeyer), Universität Bielefeld. Bewerbungsfrist: 26.08.2020.

Wiss. Mitarbeiter*in (65%), am Forschungsbereich „Regelungsstrukturen und Regelbildung in digitalen Kommunikationsräumen“, Leibniz-Institut für Medienforschung | Hans-Bredow-Institut. Bewerbungsfrist: 15.08.2020.

 

Das finden wir spannend

„Umweltnotstand“ und Haftung (Mauritius)
BVerfG: Regelungen der Bedarfe für Bildung und Teilhabe wegen Verletzung des kommunalen Selbstverwaltungsrechts mit dem Grundgesetz unvereinbar

 

 

Wir nehmen Hinweise auf Stellenausschreibungen, Summer Schools, Calls for Papers etc. gern kostenlos in unseren Servicepost am Montag auf. Schreibt uns an service@juwiss.de.


Steine statt Brot für Postkunden: Folgenbeseitigung bei rechtswidrigen Entgeltgenehmigungen

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Von JONATHAN SCHAUB-ENGLERT

Die Genehmigung der Briefporti aus dem Jahr 2015 war rechtswidrig. Zu diesem Ergebnis kam das BVerwG in seinem Urteil vom 27.05.2020 und hob in der Konsequenz die korrespondierende Entgeltgenehmigung der BNetzA auf. Daneben hat sich das BVerwG auch zu der rechtlich vielleicht noch interessanteren Frage der Abschöpfung der durch die Deutsche Post zu viel vereinnahmten Entgelte geäußert. Der von dem Gericht präferierte Weg über die zivilrechtliche Rückabwicklung überzeugt gegenüber der abgelehnten öffentlich-rechtlichen Folgenbeseitigung jedoch nicht.

Mit Urteil vom 27.05.2020 (Az. 6 C. 1.19) hat das BVerwG entschieden, dass die Erhöhung des Entgelts für die Beförderung von Standardbriefen von 0,62 € auf 0,70 € für den Zeitraum von 2016 bis 2018 rechtswidrig gewesen ist. Die entsprechende Entgeltgenehmigung war wegen Verstoßes gegen die Vorschriften des Entgeltmaßstabes der Kosten der effizienten Leistungsbereitstellung rechtswidrig. Nach dem BVerwG ist die den Maßstab modifizierende Regelung des § 3 II 2 der Post-Entgeltregulierungsverordnung (PEntgV) in der Fassung vom 29.05.2015 nicht von der im PostG vorhandenen Rechtsgrundlage des § 21 IV PostG gedeckt, sodass der Verordnungsgeber seine delegierte Normsetzungsbefugnis überschritten hat. In der Konsequenz hat das Gericht die Entgeltgenehmigung nach § 113 I 1 VwGO kassiert.

Inter partes-Wirkung der Aufhebung

Die Aufhebung der privatrechtsgestaltenden Entgeltgenehmigung hat zur Folge, dass die zwischen der Klägerin und der Deutschen Post geschlossenen Beförderungsverträge im Umfang der Aufhebung rechtsgrundlos geworden sind. Es ist wichtig zu betonen, dass die Entscheidung des BVerwG lediglich inter partes und nicht erga omnes wirkt. D.h. die Entgeltgenehmigung wurde nicht mit Wirkung gegenüber jedermann, sondern nur im Verhältnis zwischen den Parteien aufgehoben. Diese Wirkung der Aufhebung einer Entgeltgenehmigung hat das BVerwG bereits 2015 klargestellt.

Voraussetzung der Aufhebung ist die Rechtswidrigkeit der Entgeltgenehmigung, wie sie das BVerwG in seiner neuesten Entscheidung auch festgestellt hat. Damit hat die Deutsche Post auf den ersten Blick im Genehmigungszeitraum von Millionen Postkunden zu viel Briefporto vereinnahmt. Bekommen die Kunden deswegen ihr Geld zurück?

Aus prozessualer Perspektive muss die Antwort lauten: nein. Denn wegen der inter partes-Wirkung der Entscheidung wurde die Entgeltgenehmigung im Verhältnis zu den nicht klagenden Postkunden nicht aufgehoben, sodass insoweit auch keine ungerechtfertigte Bereicherung vorliegen kann.

BVerwG: Keine Abschöpfung erga omnes durch Folgenbeseitigung

Die Erhöhung des Briefportos war also rechtswidrig. Auch gegenüber nicht klagenden Postkunden wurden damit auf rechtswidriger Grundlage Entgelte vereinnahmt. Aus der Perspektive materieller Gerechtigkeit erscheint dies unbefriedigend. Darf die Deutsche Post die rechtswidrig vereinnahmten Entgelte all ihrer Kunden behalten? Die Klägerin in dem vorliegenden Verfahren hatte deshalb den Feststellungsantrag gestellt, dass die beklagte BNetzA verpflichtet ist, diese Entgelte im Wege der Folgenbeseitigung abzuschöpfen.

Dem erteilte das BVerwG indes eine Absage. Es gebe keine Rechtsgrundlage für einen solchen Abschöpfungsanspruch. Das Gericht betont ferner das Erfordernis der Verletzung eines subjektiven öffentlichen Rechts, wenn es ausführt, dass „die Rechtsstellung nach Art. 2 Abs. 1 GG einem Kunden der Beigeladenen nicht die Möglichkeit [eröffnet], als Sachwalter anderer Kunden aufzutreten.“ Dies überzeugt, denn die rechtliche Besonderheit der Privatrechtsgestaltung darf nicht die Grundsätze des subjektiven Rechtsschutzsystems beiseiteschieben. Das subjektive öffentliche Recht bleibt dessen Dreh- und Angelpunkt. Es muss daher dabei bleiben, dass die Geltendmachung von Ansprüchen gegen die Deutsche Post jedem Kunden selbst obliegt und eine Folgenbeseitigung jedenfalls de lege lata nicht erga omnes möglich ist.

Weiter fehle es nach dem Gericht am öffentlich-rechtlichen Charakter der Folgenbeseitigung, „weil die Rechtsfolgen der Aufhebung [der Entgeltgenehmigung] auf dem Gebiet des Zivilrechts eintreten.“ Die Rückabwicklung richte sich nach zivilrechtlichem Bereicherungsrecht.

Öffentlich-rechtliche Folgenbeseitigung oder zivilrechtliche Abwicklung?

Ob die Geltendmachung der Rechte der Postkunden entgegen der Ansicht des BVerwG nicht aber doch eher im Wege der öffentlich-rechtlichen Folgenbeseitigung statt im Wege zivilrechtlicher Rückabwicklung erfolgen sollte, soll im Folgenden angerissen werden.

Mit dem Verweis auf die Rückabwicklung im zivilrechtlichen Zweipersonenverhältnis stellen sich einige wichtige Folgefragen (hierzu bereits Werner Neumann, Rechtsschutz von Postkunden gegen die regulierungsrechtliche Genehmigung der Briefporti. Anmerkung zu: BVerwG 6. Senat, Urteil v. vom 05.08.2015 – 6 C 8/14, jurisPR-BVerwG, 23/2015, Anm. 5, Buchst. D).

So erscheint es zunächst unwahrscheinlich, dass Millionen von „normalen“ Kunden der Deutschen Post erst den verwaltungsgerichtlichen Klageweg beschreiten, um die Aufhebung einer Entgeltgenehmigung zu erreichen, und dann im schlechtesten Fall noch zusätzlich vor den ordentlichen Gerichten ihre Bereicherungsansprüche geltend zu machen. Mit der zivilrechtlichen Rückabwicklung schafft das BVerwG eine weitere, unnötige Hürde. Ferner träfe die Kunden als Bereicherungsgläubiger auch die Beweislast dafür, die ungerechtfertigte Vermögensverschiebung nachzuweisen, d.h. wie viele Briefe sie im Genehmigungszeitraum mit der Deutschen Post versendet haben.

Im Übrigen müssten etwaige Gegenansprüche der Deutschen Post aufgrund des insoweit unwirksamen Beförderungsvertrages beachtet werden. Nach dem Saldierungsprinzip müsste im Synallagma die eigene Bereicherung der Postkunden – in Gestalt der insoweit erbrachten Briefbeförderung – zum Abzugsposten seines Kondiktionsanspruchs umgemünzt werden.

Öffentlich-rechtliche Folgenbeseitigung insbesondere wegen Grundrechtseingriffs

Wegen dieser tatsächlichen Unwahrscheinlichkeiten und rechtlichen Unsicherheiten erscheint die öffentlich-rechtliche Folgenbeseitigung als der eher gangbare Weg. Dies lässt sich auch in rechtlicher Hinsicht rechtfertigen. Dafür spricht, dass die Entgeltgenehmigung zwar Privatrechtsverhältnisse gestaltet, jedoch ein direkter öffentlich-rechtlicher Konnex zwischen Verwaltungsakt und Privatrechtsverhältnis bestehen bleibt. Privatrechtsgestaltender Verwaltungsakt und zivilrechtliches Rechtsgeschäft sind rechtsübergreifend miteinander verbunden.

Desweiteren erweist sich aus grundrechtsdogmatischer Sicht die hoheitliche Privatrechtsgestaltung als ein Eingriff im „klassischen“ Sinne (vgl. hierzu Schaub-Englert). Es wird unmittelbar in die Vertragsfreiheit der (Mit-)Adressaten der Entgeltgenehmigung eingegriffen. (Mit-)Adressaten sind nicht nur die Deutsche Post, sondern gerade auch alle Postkunden. Diese sind nach auch nach der aktuellen Entscheidung des BVerwG (Az. 6 C 1.19, Rn. 8; grundlegend für das Postrecht BVerwG, Urt. 05.08.2015, Az. 6 C 8.14, Rn. 11 ff.) in ihrer allgemeinen Vertragsfreiheit aus Art. 2 I GG betroffen und verletzt, wenn die Entgeltgenehmigung rechtswidrig ist. Damit ist der Anwendungsbereich des Folgenbeseitigungsanspruchs eröffnet, der gerade voraussetzt, dass in eine subjektive Rechtsposition eingegriffen wird. Grundrechte sind insofern subjektive öffentliche Rechte „par excellence“. Aufgrund der rechtswidrigen Entgeltgenehmigung besteht ein rechtswidriger Zustand, der beseitigt werden muss. Mit seiner ablehnenden Argumentation negiert das BVerwG gewissermaßen diese starke Grundrechtsposition des (Mit-)Adressaten und gerät in Friktion mit dem selbst beanspruchten subjektiven Rechtsschutzsystem.

Nicht zuletzt findet schließlich eine erhebliche (Prozess-)Risikoverlagerung auf den Postkunden statt, der seine Ansprüche nicht „in einem Abwasch“ vor den Verwaltungsgerichten geltend machen kann, sondern im schlechtesten Fall zusätzlich zivilrechtlichen Rechtsschutz in Anspruch nehmen muss. Und dies, obwohl es sich auch bei der Folgenbeseitigung wegen Grundrechtseingriffs originär um eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit handelt.

Fazit

Postkunden stehen nach der Rechtsprechung vor großen Hürden, wenn sie Ansprüche im Hinblick auf zu viel gezahlte Briefporti geltend machen wollen und dafür nicht nur im Verwaltungs-, sondern auch im Zivilrechtsweg vorgehen müssen. Dem lässt sich nicht nur die beschriebene Abwehrdimension der Grundrechte (status negativus), sondern auch deren Schutzdimension (status positivus) entgegenhalten: der Staat hat durch die Erteilung einer verwaltungsbehördlichen Erlaubnis für damit einhergehende Störungen eine grundrechtliche „Mitverantwortung“ übernommen (vgl. BVerfGE 53, 30 – Mülheim-Kärlich). Dieser Verantwortung muss er auch bei der Erteilung einer – rechtswidrigen – postrechtlichen Entgeltgenehmigung nachkommen und die öffentlich-rechtliche Folgenbeseitigung zulassen. Mit dem Verweis auf die zivilrechtliche Rückabwicklung gibt das BVerwG den Postkunden Steine statt Brot.

 

Zitiervorschlag: Jonathan Schaub-Englert, Steine statt Brot für Postkunden: Folgenbeseitigung bei rechtswidrigen Entgeltgenehmigungen, JuWissBlog Nr. 16/2020 v. 11.08.2020, https://www.juwiss.de/106-2020/

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Mud and blood, again? An analysis of legal responses to the Brumadinho dam failure in Brazil 

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ALICE KASZNAR FEGHALI and DIEGO GEBARA FALLAH

In what became known as one of the most lethal mining disasters in the world, in 2019, a tailings dam, operated by Vale, collapsed in the town of Brumadinho, Brazil, releasing 12 million cubic meters of mining waste, affecting the environment and killing 270 people. Dam safety regulations had allegedly been improved after another devastating mining tragedy took place only 4 years before in the town of Mariana, where 19 people were killed. Beyond bringing corporate and individual responsibility to the spotlight, the Brumadinho failure also raised the question if Brazilian mining and environmental regulations are able to find the appropriate balance between the protection of human and environmental rights and economic development. 

Criminal charges and mining risk management in Brazil

Brazil has adopted a risk management framework in which mining companies are responsible for dam safety and for disclosing information on mining risks, while the state, through mining and environmental agencies, monitors the industry’s activities and regulates how often companies should inspect their dams. Companies are only allowed to operate dams if they provide authorities with periodical Dam Stability Declarations that must have been certified by independent safety firms, which are hired by companies themselves. 

Prosecutors claim that Vale’s directors and high executives were aware of the dam’s safety issues and, supported by TÜV SÜD, a German safety firm, provided agencies with false information on dam stability to avoid damaging the company’s reputation and market share. Vale’s and TÜV SÜD’s executives and employees were thus charged for wilful homicides and environmental crimes. The companies were also denounced for the same environmental crimes, since the Brazilian legislation foresees criminal liability for environmental harm caused both by companies and by individuals who have effectively contributed to the criminal offense or had the power to prevent damages.

If companies and individuals are found guilty in the Brumadinho case, which did not happen regarding homicide charges against the higher executives in the Mariana case, this could be seen as warning for companies operating in Brazil and perhaps even bring a sense of justice to the families of the individuals who lost their lives. Avoiding future tragedies, however, goes beyond setting a paradigmatic case and requires the state to fulfil its constitutional duties of protecting the environment and human rights. As mining is an inherently risky industry, not only companies, but also the state must observe the precautionary principle. This means taking the necessary measures to avoid companies operating over unacceptable risk thresholds. 

However, governmental agencies’ human and financial resources have shrunk in the last few years, jeopardizing the effectiveness of licensing and monitoring activities. The National Mining Agency (ANM) has been running on the same number of employees for the last 20 years, while the mining sector in Brazil has quadrupled in the same period. These numbers combined with the two tragedies have shown that the state has been unable to fulfil its duties of adequately regulating and monitoring dam safety in the mining industry.

Emergency funds and extrajudicial agreements for victims’ compensation

Vale has agreed to compensate families directly affected by the tragedy through individual and collective agreements that were reached with the assistance of the public defenders’ office. But as became clear in the Mariana case, a disaster of this magnitude has broader socioeconomic impacts. Drawing from lessons learned, prosecutors and public defenders swiftly intervened and only one month after the dam failure, achieved an agreement with Vale to set aside enough funds to ensure a monthly minimum wage payment for each adult in the economically affected areas. More than 100 thousand residents registered for the emergency support, with the organisational efforts of local NGOs. 

These swift measures are commendable in a context where judicial procedures are known for being lengthy, avoiding that victims face a scenario of decreased corporate assets in the aftermath of the disaster. This is a good use of the broad set of competencies that the Brazilian constitution gave prosecutors and public defenders for the protection of collective and human rights. However, the possibility of settling cases through extrajudicial agreements should not downplay the need to make judicial procedures more efficient and to establish specific legislation on how victim compensation should be determined in cases of similar magnitude.

Responses from the executive and legislative

The National Mining Agency prohibited the construction of new dams adopting the upstream construction method in 2016 as a response to the Mariana failure and after the 2019 disaster, ordered the elimination of all upstream dams until 2027. The Minas Gerais State Legislature, under reinforced pressure from civil society after the Brumadinho tragedy, increased fines and prohibited the construction of tailings dams in the absence of alternative solutions. 

Despite bringing improvements, these responses are not enough to ensure appropriate governance and accountability throughout the country. Besides upstream dams, there are at least 700 other mining dams in Brazil that still require state monitoring. Authorities will also have to closely monitor dam decommissioning, which is an uncommon practice in Brazil. Is it possible to safely do so, when the monitoring agencies have been under neglect? On the other hand, the federal government has prioritized to continue expanding the mining sector, promising to make licensing faster and attempting to allow exploitation of mining activities in indigenous lands.

In the same direction, bills introduced to the National Congress that aimed at increasing miners’ responsibilities have lost momentum, while bills that aim at decreasing state control over the licensing process, such as the last draft of the General Law on Environmental Licensing, which makes licensing an exception and weakens safeguards for vulnerable groups, have swiftly advanced in the political agenda. 

Ways forward

Brazilian legislation progressively recognized environmental and fundamental rights protection and established a broad range of judicial safeguards that, despite obstacles to their implementation, could bring reparation and accountability after mining disasters. Moreover, the role of local public institutions in tandem with an organized civil society and public pressure were adamant to guarantee the few improvements in legislation, access to justice and emergency support for victims. 

Nevertheless, the Brumadinho tragedy showed that implementing the current legal framework is not enough to prevent constitutional rights from being violated and that political will is necessary to make necessary structural changes. More than a year after the disaster, an international study shows that most mining companies are unable to demonstrate that they are responding appropriately to avoid similar tragedies. This is why besides urgently staffing and funding environmental and mining agencies, their monitoring competencies should be strengthened. Unfortunately, Bolsonaro’s political agenda is leading Brazil once more into the opposite (and muddy) direction.

 

Zitiervorschlag: Alice Kasznar Feghali/Diego Gebara Fallah, Mud and blood, again? An analysis of legal responses to the Brumadinho dam failure in Brazil , JuWissBlog Nr. 107/2020 v. 13.08.2020, https://www.juwiss.de/107-2020/

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„Kutten-Verbot“ für Motorradclubs verfassungsgemäß
Streit um Klausurenkorrektur im Staatsexamen

NS-Vergangenheit von Richtern des BVerfG

 

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Corona-Triage ohne gesetzliche Grundlage?

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Von ALEXANDER BRADE und MAXI MÜLLER

Mit am 14.08.2020 veröffentlichtem Beschluss hat das BVerfG einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung (§ 32 BVerfGG) abgelehnt, der unter anderem darauf zielte, den Bundesgesetzgeber zu verpflichten, verbindliche Vorgaben für eine Situation der sog. Triage zu machen, die aufgrund von Kapazitätsengpässen im Rahmen der Covid-19-Pandemie entstehen könne. Dabei stützt sich das Gericht im Wesentlichen darauf, dass es das erkennbare Infektionsgeschehen in Deutschland zum Zeitpunkt der Entscheidung (Mitte Juli 2020) nicht als wahrscheinlich erscheinen lasse, dass eine Situation eintritt, die eine Triage notwendig macht, was vor dem Hintergrund einer sich seitdem abzeichnenden „zweiten Welle“ einer Neubewertung bedarf.

Hintergrund

Die Triage bei einer Pandemie ist bis dato einfachgesetzlich nicht ausdrücklich normiert (zum gesetzlichen Rahmen bei der Organverteilung: Amos, JuWissBlog Nr. 74/2020). Weder existiert eine positive Regelung zur Verfahrensweise, also dazu welchen Personen im Falle knapper medizinischer Ressourcen (Beatmungsgeräte, Intensivbetten, etc.) eine an sich notwendige lebensrettende Behandlung zukommt und welchen nicht, noch gibt der Gesetzgeber eine negative Beschreibung der Kriterien vor, die bei dieser „Sortierung“ nicht angewendet werden dürfen. Als Orientierungshilfen erweisen sich daher einzig die ethischen Leitlinien, die medizinische Fachgesellschaften und der Deutsche Ethikrat angesichts der Corona-Krise veröffentlicht haben. Dabei beschränkt sich letzterer auf „den Bereich des nicht mehr Zulässigen“ (S. 4) während die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) darüber hinausgeht und vorschlägt, Patienten nach Maßgabe des Kriteriums der klinischen Erfolgsaussicht zu priorisieren (S. 4).

Indes stellt sich die Frage, ob sich der Gesetzgeber darauf zurückziehen darf. Nimmt man die Beschwerdeführenden in den Blick, die unter verschiedenen Behinderungen und Vorerkrankungen leiden und daher befürchten müssen, im Ernstfall medizinisch schlechter behandelt zu werden, geht es – wie das BVerfG mit Recht hervorhebt und doch im Eilverfahren unbeantwortet lässt – konkret darum, „ob und wann gesetzgeberisches Handeln in Erfüllung einer Schutzpflicht des Staates gegenüber behinderten Menschen verfassungsrechtlich geboten ist und wie weit der Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers für die Regelung konkreter medizinischer Priorisierungsentscheidungen reicht.“ (Rn. 6).

Prinzipielle Zulässigkeit einer gesetzlichen Regelung

Dass die Möglichkeiten des Gesetzgebers, abstrakt bindende Vorgaben für die Allokation knapper Ressourcen zu machen, wie mitunter behauptet wird, aus Verfassungsgründen begrenzt seien, ist unzutreffend. Insbesondere könnte er die sog. Maximierungsformel, d.h. die Rettung möglichst vieler Personen, zum Leitbild der Triage erheben. Zwar sind die Grundrechte als Abwehrrechte für Schutzsphären von Individuen konzipiert und nicht zur Aggregation eines Gemeinwohles (vgl. Dessauer, Philosophische Überlegungen zum Luftsicherheitsgesetz, S. 40). Auch gehört hierhin das Prinzip der Lebenswertindifferenz als Ausprägung der Menschenwürde (Art. 1 I GG). Danach darf das Leben in keinem Fall als Bestandteil einer Kosten-Nutzen-Rechnung, wie sie der Utilitarismus in Form eines hedonistischen Kalküls anstellt, verstanden werden (vgl. auch BVerfGE 115, 118 [139 u. 154]). Im Fall der Triage bliebe daher nur noch die Möglichkeit, den Zufall (Losverfahren und/oder strikte zeitliche Priorität) über die Behandlungspriorität entscheiden zu lassen (in diese Richtung Fateh-Moghadam/Gutmann, VerfBlog 2020/4/30), was der Gesetzgeber – teilte man diese Prämisse – entsprechend regulativ aufgreifen könnte.

Gerade hieran zeigt sich jedoch, dass sich die These vom absoluten Lebensschutz kaum wird halten können. Eine Verabsolutierung von Werten darf nämlich unter keinen Umständen dazu führen, dass darüber der einzelne konkret rettbare Mensch und damit eine gerechte Lösung im Einzelfall vergessen werden (so Brech, Triage und Recht, S. 244; abweichender Ansatz bei Lübbe, VerfBlog 2020/3/15). Die deutsche Rechtsordnung erkennt bereits zahlreiche Ausnahmen zu diesem Grundsatz an, darunter das Recht, einen anderen in Notwehr zu töten (§ 32 StGB), sowie die Privilegierung der Tötung auf Verlangen (§ 216 StGB). Dogmatisch stützen lässt sich dies am ehesten mit dem in Art. 2 II 3 GG statuierten Gesetzesvorbehalt, der den Weg zu einer Abwägung auf Rechtfertigungsseite ebnet. Nicht umsonst hat das BVerfG eine Abwägung zwischen dem Leben der Mutter und dem Leben des ungeborenen Kindes als „verfassungsrechtlich hinzunehmen“ bezeichnet (BVerfGE 39, 1 [48]). Mehr noch: Wenn dies sogar dann der Fall sein soll, wenn medizinisch gesehen beide Leben (Mutter und Kind) rettbar sind, kann im Fall der unmöglichen Rettung aller Beteiligten nichts anderes gelten (vgl. Junghanns, Verteilungsgerechtigkeit in der Transplantationsmedizin, S. 55).

Hierin liegt schließlich auch kein Widerspruch zum Urteil des BVerfG zum Luftsicherheitsgesetz. Anders als im Fall des staatlichen Abschusses eines Flugzeugs wird der „hoffnungslose Patient“ im Rahmen der (ex ante-)Triage nicht aktiv getötet, sondern seine Behandlung – bei Sicherstellung einer palliativen Behandlung –„lediglich“ unterlassen, wofür statt der Abwehr- die Schutzpflichtdimension des Grundrechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 II 1 GG) bzw. der Menschenwürde (Art. 1 I GG) maßgeblich ist (vgl. Hong, VerfBlog 2020/3/29; aus der Rspr. etwa: BVerfGE 46, 160 [165]; zur sog. ex post-Triage nur Gelinsky, Was regeln in einem Triage-Gesetz?, S. 9). Abgesehen davon handelt es sich bei diesem Unterlassen nicht um eine bewusste Entscheidung, sondern vielmehr um eine alternativlose Notwendigkeit, von der man bei dem Abschuss eines Objekts im Luftraum, das durch eigenverantwortlich handelnde Terroristen gesteuert wird, nicht ohne weiteres sprechen kann.

Untätigkeit des Gesetzgebers als Schutzpflichtverletzung

Es ist also nicht die Würde des Menschen, die verhindert, dass das Optimierungsprinzip zum Tragen kommt; Art. 3 GG i.V.m. Art. 2 II 1 GG gebieten es im Gegenteil, dass der Staat dafür Sorge trägt, dass möglichst vielen Menschen eine überlebenswichtige Behandlung zu Teil wird. Dazu gehört die gesetzgeberische Vorgabe, dass knappe medizinische Ressourcen willkürfrei, also unter den dringlichsten Patienten entsprechend der Erfolgsaussicht der Behandlung eingesetzt werden müssen. Dem kann nicht entgegengehalten werden, dass eine Gefährdung des Schutzguts deswegen ausscheide, weil die jüngsten einschlägigen Fachempfehlungen ebenfalls auf diesem Grundgedanken aufbauen, da diese nicht verbindlich sind und ihre strikte Einhaltung daher keineswegs sichergestellt ist. Abgesehen davon besteht über die anzuwendenden Maßstäbe keineswegs Einigkeit, wie der Blick in katastrophenmedizinische Leitfäden illustriert (vgl. Kern, in: Weidringer (Hrsg.), Katastrophenmedizin, S. 53).

Hinzu kommt, dass der Gesetzgeber auch diejenigen Kriterien festzulegen hat, die bei der Bestimmung der Erfolgsaussicht keine Rolle spielen (dürfen). Zu denken ist dabei zunächst an das kalendarische Alter, das im Unterschied zum biologischen Alter keinerlei Bezug zum Differenzierungsziel der Maximierung der Überlebendenzahl hat. Zudem hat sich der Gesetzgeber – um auf den Ausgangsfall zurückzukommen – an Art. 3 III GG auszurichten, der auch mittelbare Diskriminierungen zulasten Behinderter verbietet (Heun, in: Dreier, GG, Art. 3 Rn. 138). Vergegenwärtigt man sich nun, dass die DIVI-Empfehlungen trotz ihrer Beteuerung, keine Diskriminierung „aufgrund bestimmter Grunderkrankungen oder Behinderungen“ (S. 5) zuzulassen, die „Clinical Frailty Scale“ (S. 7) auch auf Behinderte anwendet, die zumeist von Geburt einen höheren Assistenzbedarf haben und daher regelmäßig eine schlechtere Einordnung erfahren dürften, wird deutlich, dass ein Tätigwerden des Gesetzgebers unausweichlich ist, um sicherzustellen, dass die Bestimmung der Erfolgsaussicht unter Außerachtlassung des allgemeinen prämorbiden Gesundheitszustandes erfolgt.

Doch auch ungeachtet dessen ist die Triage ein Vorgang, der von höchster grundrechtlicher Bedeutsamkeit ist. In Rede steht ein Prozess, welcher grundsätzlich dazu geeignet ist, den jeweils Betroffenen in Art. 1 I 1 GG, Art. 2 II 1 GG und/oder Art. 3 GG zu verletzen. Dabei gilt es, dem Wesentlichkeitsgrundsatz Rechnung zu tragen, wonach der parlamentarische Gesetzgeber verpflichtet ist, wesentliche, für die Grundrechtsverwirklichung maßgebliche Regelungen selbst zu treffen und nicht anderen Normgebern oder der Exekutive zu überlassen (BVerfGE 147, 253 [309 f.] m.w.N.; speziell mit Bezug zur Triage: Taupitz, MedR 2020, 440 [442]). Zu diesem Ergebnis wird man erst Recht dann kommen müssen, wenn man in der Befolgung des Maximierungsziels einen Vorgang sieht, der gegen die Menschenwürde verstößt. Denn „es [kann] schwerlich ein Gebot der Menschenwürde sein, Entscheidungen über Leben und Tod der betroffenen Patienten an nicht demokratisch legitimierte private Verbände auszulagern.“ (Engländer/Zimmermann, NJW 2020, 1398 [1402]). Im Lichte dessen dürfte auch die Einsetzung eines Gremiums, das die Verteilung knapper intensivmedizinischer Ressourcen vorläufig regelt, keinen Gewinn darstellen, zumal – wie das BVerfG betont – ein solches Gremium über eine geringere Legitimation als beispielweise der Deutsche Ethikrat verfügte, den der parlamentarische Gesetzgeber eingerichtet hat (Rn. 10).

Fazit und Ausblick

Der Gesetzgeber hat nach all dem neben dem (Maximierungs-)Ziel und der damit einhergehenden Notwendigkeit, zur Ermittlung der „Hoffnungslosengruppe“ nach Erfolgsaussicht der Behandlungen zu priorisieren, auch diejenigen Kriterien vorzugeben, die dabei außer Acht bleiben müssen, wobei namentlich an Art. 3 III GG zu denken ist. Daran, dass dieses Unterfangen im Spannungsfeld von Menschenwürde, der Schutzpflicht für das Leben sowie des Diskriminierungsverbots außerordentlich komplex ist, kann kein Zweifel bestehen. Dies stellt jedoch keine Rechtfertigung für die Untätigkeit des demokratisch legitimierten Gesetzgebers dar, der dazu aufgerufen ist, Rechtssicherheit für Patienten, Angehörige und, nicht zuletzt, für Ärzte zu schaffen. Denn Zeit für ethische Überlegungen wird, soweit die Medizin als deskriptives Fach diese überhaupt bieten kann, in sich stets fundamental unterscheidenden Katastrophenszenarien kaum sein.

Es bleibt zu hoffen, dass sich spätestens das BVerfG in der ausstehenden Hauptsacheentscheidung dieser existenziellen Fragen annehmen wird. Dabei wird es sich dann auch nicht mehr auf die Erwägung zurückziehen können, dass der Eintritt einer Triage-Situation derzeit unwahrscheinlich sei – einem Argument, dem generell eine nur geringe Überzeugungskraft beigemessen werden kann, da die Entwicklung außergewöhnlich dynamisch verläuft und daher jederzeit „Corona-Hotspots“, verbunden mit einer mindestens örtlichen Knappheit medizinischer Ressourcen, auftreten können. Dass ein „irreversibler Schaden für die Antragstellenden“ also durchaus eintreten kann (anders Rn. 9), gilt umso mehr angesichts des gegenwärtigen Infektionsgeschehens, welches auf den (überregionalen) Beginn einer „zweiten Welle“ hindeutet.

 

Zitiervorschlag: Alexander Brade/Maxi Müller, Corona-Triage ohne gesetzliche Grundlage?, JuWissBlog Nr. 108/2020 v. 17.8.2020, https://www.juwiss.de/108-2020/

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Kooperatives Lehren im Ausnahmezustand

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Von MAXIMILIAN PETRAS

Der COVID-19-Ausnahmezustand hat eine (nahezu) agile Universität hervorgebracht: Innerhalb kürzester Zeit mussten wir neue digitale Lehrkonzepte entwerfen. Angesichts des aufziehenden digitalen Wintersemesters ist die Frage, was sich bewährt hat. Haben wir nur die Technik ausgetauscht oder gibt es das Potential für eine grundlegende Transformation?

Veränderungen fassbar machen

Um zu analysieren, ob und wie die Lehre im öffentlichen Recht verändert worden ist, bietet sich für einen ersten Zugang das SAMR-Modell von Dr. Ruben Puentedura an. Er fragt, wie digitale Technik vorherige rein analoge Lehrweisen ersetzen (Subsitution – Stufe 1), erweitern (Augmentation – Stufe 2), verändern (Modification – Stufe 3) oder gar neu definieren kann (Redefinition – Stufe 4).

© „English: Explanation of the SAMR Model“ von Lefflerd. Lizenziert unter CC BY-SA 4.0 über Wikimedia Commons – https://bit.ly/3l4jemI

Auf der dritten und vierten Stufe ist die ursprüngliche Lehre durch die digitale Technik eine andere geworden, während auf den ersten beiden Stufen lediglich einzelne Elemente ausgetauscht werden. Natürlich wurde das SAMR-Modell eher für eine analoge Lehre entwickelt, in der schrittweise einzelne digitale Methoden ergänzend eingeführt werden. Die Auswirkungen von COVID-19 waren weitaus radikaler, so dass SAMR nur eine erste Orientierung bietet, die durch umfassende Evaluationen und eure Kommentare unter diesem Artikel ergänzt werden sollte.

Raketenstart in die digitale Lehre

Am Anfang des Sommersemesters stellte sich uns allen die drängende Frage, welche Methoden und Tools wir wählen. Viele hatten bereits fertige Fälle, PPT-Folien und konnten auf einen reichhaltigen Erfahrungsschatz vergangener Semester zurückgreifen. Die Übertragung dieses Wissens in digitale Formen ist jedoch alles andere als trivial, weil sich die Dynamik eines Seminars in einem physischen Raum über Videokonferenzen nicht einfach reproduzieren lässt. Eine reine Ersetzung der analogen Lehre war folglich keine Option. Wie weit die eingesetzte Technik die Art der Lehre konkret modifizierte, hing stark von der gewählten Methode ab. Hier wurden vertonte Powerpoint-Folien, aufgezeichnete Videos zur Fallbesprechung, Multiple-Choice Tests oder Live-Besprechungen per Videokonferenz vielfältig kombiniert.

Eine Grundfrage war, ob die Lehre synchron oder asynchron sein sollte. Synchrones Lernen beinhaltet eine gleichzeitige Anwesenheit von Lehrenden und Studierenden, während asynchrones Lehren zeitunabhängig und flexibel ist. Sowohl in meiner AG als auch in anderen Universitäten schienen synchrone Live-Besprechungen von Fällen beliebt zu sein. Die Lehrenden konnten auf ihre bereits erstellten Fälle zurückgreifen. Die Studierenden konnten direkt Fragen stellen, diskutieren und hatten einen gewohnten festen AG-Termin, der ihre Woche ein wenig strukturierte.

Der Teufel steckte hier im Detail. Schon bei der Auswahl des richtigen Tools standen viele vor der Frage, ob das datenschutzrechtlich und sicherheitstechnisch fragwürdige Start-Up Zoom benutzt werden sollte. Die Universität Kiel hatte zum Glück eine eigene Instanz der Open Source Software BigBlueButton aufgesetzt, die im Betrieb mit kleinen Gruppen von bis zu 30 Teilnehmenden problemlos funktionierte. Als die Technik endlich lief und die Fälle besprochen werden konnten, redeten viele von uns in einen schwarzen Raum ohne Gesichter. Die Webcam wurde von meinen Studierenden gar nicht angeschaltet und das Mikrophon nur sehr vereinzelt. Dafür wurde der Chat intensiv genutzt. Erfolgreich waren auch kleinere Experimente mit dem Multi-User Whiteboard, auf dem die Studierenden gleichzeitig die richtigen Antworten markieren konnten. Kleinere Live-Umfragen zu inhaltlichen Fragen wurden verlässlich ausgefüllt. Sehr geschätzt war die Möglichkeit, Kleingruppenräume zu öffnen, in denen sich die Studierenden in Ruhe austauschen konnten. Alles Arbeitsweisen, die nur noch entfernt an einen physischen AG-Raum erinnern.

Die Stärken des digitalen Lernens

Häufig war die Wahl der synchronen Videokonferenzen dem Zeitdruck am Beginn des Semesters geschuldet. In einem Team von vier wissenschaftlichen Mitarbeiter:innen haben wir deshalb gemeinsam für die ersten zwei AG-Wochen asynchrone Lehrangebote erstellt.

Zu Beginn der AG verzichteten wir auf Live-Besprechungen und haben stattdessen Videos zu den Basics der Grundrechtsprüfung in unserer Lernplattform OpenOLAT hochgeladen. Die Studierenden konnten ihr Wissen danach mit Multiple-Choice- oder Freitext-Tests überprüfen. Hier entstand etwas Neues (genau, Stufe 4), das mehr an Wissensvermittlung aus Vorlesungen erinnerte, aber das Wissen stark komprimierte. Laut meiner Kurs-Evaluation schien schon dieses freiwillige Angebot einen diffusen Druck zu erzeugen, bereits zu Beginn des Semesters innerhalb der Fristen alle Tests erfolgreich zu absolvieren. Dennoch waren die meisten Teilnehmer:innen dankbar, die wichtigsten Inhalte in einer personalisierten Form zu bekommen, wie es in einer normalen AG nicht möglich gewesen wäre.

Bis zum Ende der AG gab es neben Live-Besprechungen bei mir jede Woche eine Gruppenarbeit, in der die jeweilige Gruppe eine Skizze ihrer Falllösung gemeinsam innerhalb unserer Lernplattform OpenOLAT erstellen sollte. Auf diese Skizze habe ich mich dann während der Besprechung bezogen. Die Zusammensetzung der Kleingruppenräume während der Live-Besprechungen orientierte sich ebenfalls an der Gruppenarbeit, um zwischen den Studierenden Vertrauen aufzubauen. Vereinzelt kam hier die Rückmeldung, dass eine Durchmischung der Gruppen angenehmer gewesen wäre.

Noch tiefgreifender als die neuen hybriden AG-Formate waren die Ankündigungen, Open-Book-Klausuren zu schreiben. Auf einmal treten Definitionen und Schemata in den Hintergrund. Es zählen die Auswertung des Sachverhaltes und eine eigene Argumentation. Wenn das eine dauerhafte Folge des letzten Semesters wäre, stünden wir spätestens jetzt auf den letzten beiden Stufen des SAMR-Modells.

Wissen wächst, wenn es geteilt wird

Die Hinwendung zur digitalen Lehre schafft nicht nur neue Herausforderungen, sondern auch neue Möglichkeiten zur Kooperation zwischen Lehrenden. Lernformate und einzelne Materialien können digital leicht gemeinsam entwickelt und geteilt werden, wenn sie als Open Educational Ressources erstellt werden. Deswegen baue ich mit anderen Interessierten ein Projekt auf, das nach dem Vorbild von Nikolas Eisentraut frei zugängliche Materialien in einer interaktiven Community erstellen möchte. Eine erste Projektskizze gibt es unter diesem Link.

Wenn Du dir vorstellen kannst, dabei zu sein, kontaktiere mich gerne.

 

Zitiervorschlag: Maximilian Petras, Kooperatives Lehren im Ausnahmezustand, JuWissBlog Nr. 109/2020 v. 20.8.2020, https://www.juwiss.de/109-2020/

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