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Polizisten haben kein Recht. Ein dogmatischer Zwischenruf

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Von SEBASTIAN SCHWAB

Auf der Kurznachrichtenplattform Twitter hat in der vergangenen Woche ein Video große Verbreitung gefunden, das zeigt, wie letztlich zwölf Polizeibeamte einen 15-jährigen Jugendlichen mit Schlagstock und Pfefferspray überwältigen, um seine Identität festzustellen, nachdem er ordnungswidrig mit seinem E-Roller auf dem Bürgersteig gefahren war. Unabhängig von der in etablierten Medien aufgegriffenen Debatte, ob der Einsatz verhältnismäßig war – was sich ohne Weiteres nicht beurteilen lässt –, ist es eine Konversation am Rande des Einsatzes, die gleichfalls Beachtung verdient.

Im Video ist zu hören, wie eine Polizeibeamte die aufzeichnende Frau anspricht und sie mehrmals dazu auffordert, den Einsatz nicht weiter zu filmen. Dies sei, so die Polizeibeamte, verboten. Aber stimmt das denn? Und ist es denn – allein mit Blick auf die Dogmatik – richtig? Die Antwort auf die erste Frage lautet Ja. Die zweite Frage muss indes, so vertrete ich hier, verneint werden. Es besteht eine Kluft zwischen dem, was die Rechtsprechung zu dieser Frage urteilt, und dem, was Grundrechtsdogmatik als Antwort gebietet.

Die Rechtsprechung

Um das Filmen und Photographieren polizeilicher Einsätze rankt sich eine umfangreiche, auch höchst- und bundesverfassungsgerichtliche Rechtsprechung. Waren früher noch Kameras beschlagnahmt worden, damit der Film nicht entwickelt werden konnte (BVerwG v. 14. Juli 1999 – 6 C 7/98), wurden in neueren Sachverhalten Mobiltelephone eingezogen oder als mildere Maßnahme eine Identitätsfeststellung (OVG Lüneburg v. 19. Juni 2013 – 11 LA 1/13) vorgenommen. Polizei und Staatsanwaltschaften sind mittlerweile dazu übergegangen, das Verhalten des Filmenden als den § 201 StGB (Unverletzlichkeit des nichtöffentlich [!] gesprochenen Wortes) erfüllendes Verhalten zu werten. Zumindest letztere Praxis entbehrt evident jeglicher Grundlage, wie erst jüngst ein lesenswerter Beitrag in der NJW (Ullenboom, NJW 2019, 3108) luzide dargelegt hat. Für die Beschlagnahme-Praxis dagegen fällt das Bild gemischt aus: Das Bundesverfassungsgericht bestätigte 2015 (BVerfG v. 24. Juli 2015 – 1 BvR 2501/13) inzident die Auffassung der Verwaltungsgerichte, dass das Filmen und Photographieren Bediensteter der Polizei zu Zwecken der Beweissicherung rechtmäßig sei, bei Veröffentlichung der Aufnahmen indes ein Verstoß gegen § 22 KUrhG vorliegen könnte, nachdem die abgebildeten Polizistinnen und Polizisten in die Erstellung der Aufnahmen nicht eingewilligt hätten. Zwar kann ein Verstoß gegen § 22 KUrhG bekanntlich gerechtfertigt werden, wenn die abgebildete Person Akteurin oder Akteur eines „Ereignisses der Zeitgeschichte“ (vgl. § 23 Abs. 1 Nr. 1 KunstUrhG) ist – nur ob ein Ereignis zum zeitgeschichtlichen wird, ob die Aufnahme in den sozialen Medien „trendet“, weiß man eben oft erst hinterher.

Die Trennung von Amt und Person

Die dargestellte Rechtsprechung wird der für einen freiheitlichen Verfassungsstaat kennzeichnenden Trennung von Amt und Person nicht gerecht. Sie bedarf einer grundrechtlichen Neujustierung. Die Regelungen des Kunsturheberrechtsgesetzes zielen darauf ab, das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Abgebildeten zu schützen. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht wird nach gängiger Auffassung aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG gefolgert. Als Grundrecht ist es in erster Linie ein Abwehrrecht gegen den Staat; der Staat selbst hat keine Grundrechte gegen seine Bürgerinnen und Bürger. „Polizeibeamte sind Menschen“ – diese Sentimentalität ist ebenso richtig und verständlich wie banal und belanglos. Denn Polizeibeamte, die unmittelbaren Zwang anwenden, handeln in Ausübung des Gewaltmonopols des Staates. Sie tun das öffentlich, in Uniform und meist mit Recht. Ihre Tätigkeit ist auf Öffentlichkeit angelegt; sichtbare Polizeipräsenz schreckt ab und soll die gefühlte Sicherheit erhöhen. Polizistinnen und Polizisten repräsentieren wie keine zweite Berufsgruppe den Staat, an dem – staats- und demokratietheoretisch immer wieder die Betonung wert – jede einzelne Bürgerin, jeder einzelne Bürger gestaltenden Anteil hat (vgl. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, §100).

Schlüpfen Polizeibeamte in ihre Uniform, machen sie damit kenntlich, dass ihre Handlungen eben diese reflexive Legitimität beanspruchen; im Gegenzug müssen sie darauf verzichten, in der kommoden Privatheit zu leben, die Nicht-Uniformierten zusteht. Als Angehörige der Polizei haben sie kein Grundrecht, das dazu führen könnte, sie unter den Schutz des Kunsturheberrechtsgesetzes zu stellen. Auch eine Pflicht zur Anonymisierung durch Unkenntlichmachen der Gesichter scheidet darum aus. Um nicht missverstanden zu werden: Bedrohung und Körperverletzung von Polizisten durch Rechts- und Linksextremisten sind leider real. Ebenso nicht zu leugnen ist aber, dass eine Anonymisierung staatlicher Hoheitsträger zu Friktionen mit dem Credo führt, das Zeigen des eigenen Gesichtes gehöre zu den Voraussetzungen einer demokratischen Gesellschaft. Wenn der EGMR das für einfache Bürgerinnen sagt, muss es für uniformierte Polizeikräfte erst recht gelten.

Absolute Transparenz als Folge?

Eine Berufung auf das Kunsturheberrecht scheidet nach alledem hier aus, reiht sich aber ein in andere Versuche des Staates, unter Berufung auf (sein) Urheberrecht das Informationsinteresse der Bürgerinnen und Bürger zu unterbinden. Die Qualifikation eines solchen Vorgehens als rechtswidrig lässt jedoch nicht den Umkehrschluss zu, der Staat sei zu absoluter Transparenz verpflichtet. Es gibt zulässige Arkanbereiche: Der Fall würde hier zum Beispiel möglicherweise anders liegen, wenn Zivilfahnder auf diese Weise szeneintern enttarnt würden, die Effektivität der Gefahrenabwehr könnte hier zumindest in eine Abwägung mit den Grundrechten der betroffenen Filmenden eingestellt werden. Daneben müssten die Grundrechte der Filmenden auch dort Einschränkungen erfahren, wo der Polizeieinsatz behindert würde. Beides freilich war hier nicht der Fall. Es ging nicht um eine Grundrechtseinschränkung um Willen des legitimen Ziels der staatlichen Gefahrenabwehr, sondern um eine (vermeintliche) Grundrechtskollision, wie sie mit der in der Sache haltlosen Berufung auf das Kunsturheberrechtsgesetz und damit das allgemeine Persönlichkeitsrecht insinuiert wird.

Schutzbereichsverwirrungen

Nachdem nun dargelegt ist, dass Polizeibeamte im vorliegenden Fall – und den üblichen anderen Fällen – kein eigenes Recht haben, das der Position des Filmenden entgegenstehen könnte, stellt sich nur noch die Frage, welche Rechtsposition es eigentlich ist, die der filmenden Person zusteht. Welcher Schutzbereich ist für sie grundrechtlich hier überhaupt einschlägig? Die Frage führt in eine veritable Schutzbereichsverwirrung.

Zwei neuartige Phänomene sind in Rechnung zu stellen: Das des Leserreporters und das der sozialen Medien. Jedermann kann auf Kurznachrichtendiensten wie Twitter oder Videoplattformen wie Youtube selbst erstelltes Material der Öffentlichkeit zugänglich machen. Auch etablierte Medien binden in ihre redaktionelle Berichterstattung immer wieder solche Inhalte ein; insbesondere Boulevard-Blätter fordern ihre Leser sogar zur Einsendung auf und stellen ihnen einen „Presseausweis“ zum Herunterladen zur Verfügung. Wird also unter dem Einfluss sozialer Medien jeder zu seinem eigenen Presseorgan?

Das Grundgesetz geht von einem eher institutionellen Pressebegriff aus. Journalisten, Verlagshäuser, möglicherweise auch Grossisten, unterfallen seinem Schutzbereich. Auch Schülerzeitungen steht das Pressegrundrecht nach dem Abschied vom besonderen Gewaltverhältnis zu. Entscheidend sind – mindestens subkutan – institutionelle und redaktionelle Einbindung und Lauterkeit; damit geht eine Verfassungserwartung einher, die es verdient, aufrecht erhalten zu werden, wenngleich sie im Hinblick auf Boulevard-Medien mitunter wie eine kontrafaktische Verhaltenserwartung anmutet. Gleichzeitig scheidet aber auch die Meinungsfreiheit recht klar aus; es handelt sich, möchte man überhaupt diesen entkörperlichten Begriff auf Bewegtbild-Dokumente (und nicht deren spezifischen Inhalt) anwenden, um „Tatsachen(behauptungen)“. Es bleibt also nur die allgemeine Handlungsfreiheit – nicht viel, aber mehr, als einem Polizeibeamten in Ausübung seiner dienstlichen Funktion zusteht.

Fazit: Kein Recht, aber eine Pflicht

Die Rechtsprechung, nach der man Polizeibeamte zwar zu Beweissicherungszwecken filmen, diese Aufnahmen aber nicht veröffentlichen darf, beruht auf einer grundrechtlichen Abwägung, für die es hier keinen Raum gibt: Polizeibeamte haben als Verkörperung staatlicher Gewaltausübung kein (Grund-)Recht. Die Veröffentlichung kann nur dann verboten werden, wenn der Staat ein eigenes – d.h. nicht-grundrechtliches – Interesse an der Anonymität seiner Beamten hat. Das lässt sich für Einsätze von Zivilfahndern hören, für den ganz gewöhnlichen Einsatz uniformierter Beamter eher nicht.

Die Rechtsposition der Filmenden ist nicht stark: Trotz mancherlei Schutzbereichsverwirrung infolge der Möglichkeiten, die soziale Medien bieten, greift für sie nur die allgemeine Handlungsfreiheit. Doch dieses leicht einzuschränkende Grundrecht trifft auf Seiten der Polizei (im Regelfall) auf kein Gegenrecht, sondern auf nur eine einzige Pflicht: Polizistinnen und Polizisten müssen sich dem Gesetz getreu verhalten. Dabei müssten sie sich eigentlich gern zuschauen lassen.

Zitiervorschlag: Schwab, Sebastian, Polizisten haben kein Recht. Ein dogmatischer Zwischenruf, JuWissBlog Nr. 110/2020 v. 28.8.2020, https://www.juwiss.de/110-2020/

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Geisels Äußerungen: Zwischen Kurzschluss und Zensur

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Von NICOLAS HARDING

In der Debatte um die von der Berliner Versammlungsbehörde verhängten Untersagungen für die geplanten Corona-Demonstrationen haben sich verschiedene Amtsträger und Politiker in die Diskussion eingebracht (ein guter Überblick findet sich im Tagesspiegel). Die Äußerungen des Berliner Innensenators Andreas Geisel stachen besonders heraus. Der Kopf der Berliner Polizei und Versammlungsbehörde sagte zum einen, dass es sich bei der behördlichen Untersagung nicht um eine Entscheidung gegen die Versammlungsfreiheit, sondern vielmehr um eine Entscheidung für den Infektionsschutz handele. Zum anderen sei er nicht bereit hinzunehmen, „dass Berlin als Bühne für Corona-Leugner, Reichsbürger und Rechtsextremisten missbraucht wird.“ Während die erste Aussage – damit werden sich Verwaltungsgericht und Oberverwaltungsgericht allerdings zeitnah beschäftigen müssen – auf den ersten Blick einen sachlichen Untersagungsgrund zum Inhalt hat, tritt er mit seinen Befürchtungen eines Missbrauchs in ein rechtsstaatliches Fettnäpfchen. Der einzige Trost für Geisel kann nur sein, dass er  bei weitem nicht der erste ist.

Schwesig, Wanka, Seehofer und DÜGIDA

Auf den ersten Blick haben Manuela Schwesig, Johanna Wanka und Horst Seehofer nur eines gemein: Sie bekleiden oder bekleideten allesamt ein Regierungsamt auf Bundesebene. Betrachtet man ihre politische und regierungsamtliche Aktivität etwas genauer, fällt auf, dass sich das Bundesverfassungsgericht mit kritischen Äußerungen aller drei auseinanderzusetzen hatte. In den Fällen Wanka und Seehofer stellte das Gericht sogar fest, dass die Äußerungen bzw. deren ministerielle Verbreitung mit der parteipolitischen Neutralität ihres Amtes nicht vereinbar und damit rechtswidrig waren. Allerdings – und das könnte Geisels Motivation gewesen sein – stellte das bereits 1977 ausdrücklich fest, dass es von Verfassungs wegen her nicht verboten, sondern vielmehr geboten sei, dass Hoheitsträger Öffentlichkeitsarbeit und Bürgerinformation betreiben. Der mündige Bürger muss die Beweggründe amtlicher Entscheidungen kennen. Dies gilt auch für die Untersagung einzelner Versammlungen. An dieser Stelle unterscheidet sich die „Causa Geisel“ von den oben genannten Fällen. Dort ging es um parteipolitische Neutralität, hier geht es um Versammlungsfreiheit. Insofern erinnert der Sachverhalt ein wenig an den der sog. DÜGIDA-Entscheidung des zugrundeliegenden Sachverhalt, in dem sich der Düsseldorfer Oberbürgermeister – seines Zeichens Namensvetter Geisels – gegen eine DÜGIDA-Demonstration stellte und zu einer Gegendemonstration aufrief. Wenngleich es vor Gericht primär um die Frage der Einhaltung des Sachlichkeitsgebots ging, war auch dort die Versammlungsfreiheit von Bedeutung.

Grundrechtsbindung für jegliche Form staatlichen Handelns

Der Innensenator Berlins war bei seinen als amtlich zu qualifizierenden Äußerungen an das Grundgesetz und die darin enthaltenen Grundrechte gebunden. Dies ergibt sich aus Art. 1 Abs. 3 und Art. 20 Abs. 3 des Grundgesetzes und im konkreten Fall zusätzlich aus Art. 36 der Berliner Landesverfassung. Dass sich die Grundrechtsbindung nicht auf rechtsförmiges Handeln von Hoheitsträgern beschränkt, steht im Hinblick auf die Vielseitigkeit hoheitlicher Erscheinungsformen mittlerweile weitestgehend unbestritten fest. Ist der Schutzbereich eines Grundrechts eröffnet, kann in kritischen Äußerungen eines Hoheitsträgers daher ein Grundrechtseingriff zu sehen sein. Wann dies der Fall ist, richtet sich im Einzelfall nach der Finalität und Intensität der getroffenen Äußerungen sowie nach dem in Rede stehenden Grundrecht. Vorliegend gilt es dabei zu berücksichtigen, dass die Versammlungsfreiheit in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts einen besonders hohen Stellenwert hat und vom Bundesverfassungsgericht dank seiner Verflechtung mit der Meinungsäußerungsfreiheit als „schlechthin konstituierend für die freiheitlich demokratische Grundordnung“ qualifiziert wird.

„Bühne für Corona-Leugner“

Die Äußerungen des Berliner Innensenators sind unter zwei Gesichtspunkten kritisch zu sehen. Zum einen scheint Andreas Geisel seinen Aussagen ein verzerrtes Grundrechts- und Demokratieverständnis zugrunde zu legen. Indem er – unabhängig von der Rechtmäßigkeit der Untersagung in der Sache – davon spricht, Corona-Leugnern keine Bühne geben zu wollen, beraubt er sie ihrer grundrechtlichen Versammlungsfreiheit. Die auf einer Versammlung vertretenen Ansichten und getätigten Aussagen sind vom Schutzbereich der Freiheit erfasst, sofern dadurch nicht gegen bestehende Gesetze verstoßen wird. Dass die Gerichte dazu bereit sind, diesen Schutz effektiv durchzusetzen, haben ihre Entscheidungen der letzten Jahre zu sog. Flashmobs gezeigt. Eine Versammlung zu untersagen, weil dort objektiv falsche und bei gesundem Menschenverstand nicht nachvollziehbare Ansichten vertreten werden, ist mithin schlichtweg rechtswidrig und äußerst kritisch zu sehen. Nicht ohne Grund schützt Art. 5 Abs. 1 Satz 3 des Grundgesetzes ausdrücklich vor staatlicher Zensur. Die Aussagen des Innensenators bewegen sich in diese Richtung.

Die innere Versammlungsfreiheit  

Zum anderen gilt es, die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur sog. inneren Versammlungsfreiheit zu berücksichtigen. Diese beschreibt die innere Komponente der Versammlungsfreiheit, die sich am ehesten mit der individuellen Motivation, an einer Versammlung teilzunehmen, beschreiben lässt. Sie hat eine Ausstrahlungswirkung in das Vorbereitungsstadium, sodass der Schutzbereich der Versammlungsfreiheit bereits  im Vorfeld einer Versammlung eröffnet sein kann. Wird staatlicherseits auf die Teilnahme der Versammlung eingewirkt, indem Überwachungs- oder Einschüchterungsmaßnahmen vorgenommen werden, kann ein Eingriff in die innere Versammlungsfreiheit potenzieller Versammlungsteilnehmer gegeben sein (eindrücklichstes Beispiel dafür ist wohl der als Eingriff gewertete Flug eines Kampfjets über eine stattfindende Versammlung). Konsequenterweise muss dies auch für Äußerungen gelten, die von einem Hoheitsträger  im Vorfeld einer Versammlung getätigt werden. Ihnen kann im Einzelfall durch die Rezeption in der Bevölkerung eine diffamierende Wirkung zukommen,  die als mittelbar-faktischer Eingriff zu werten ist. Auch hier ist die neben der Eingriffsintensität auch die Finalität des Informationshandelns von Bedeutung. Wird der Einzelne dazu gezwungen, seine Teilnahme an der Versammlung zu überdenken, weil er staatlicherseits bewusst als Corona-Leugner oder gar Reichsbürger eingestuft wird und befürchten muss in der Bevölkerung zurückgewiesen zu werden, ist von einem Eingriff in die innere Versammlungsfreiheit auszugehen, der keiner Rechtfertigung zugänglich ist.

Auch wenn im Hinblick auf das Verbot der Demonstration das letzte Wort noch nicht gesprochen ist, steht fest, dass die Äußerungen des Innensenators den Bereich des rechtlich Zulässigen verlassen haben.

Zitiervorschlag: Harding, Nicolas,Geisels Äußerungen: Zwischen Kurzschluss und Zensur, JuWissBlog Nr. 111/2020 v. 29.8.2020, https://www.juwiss.de/111-2020/.

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Stellen

Eine Stelle als Universitätsassistent*in (50-75%, vertretend) im Bereich Öffentliches Recht, Staats- und Verwaltungslehre an der Universität Innsbruck. Bewerbungsfrist: 2.9.2020.

Eine weitere Stelle als Universitätsassistent*in (50-75%, vertretend) im Bereich Öffentliches Recht, Staats- und Verwaltungslehre an der Universität Innsbruck. Bewerbungsfrist: 2.9.2020.

Noch eine Stelle als Universitätsassistent*in (50-75%, 4 Jahre) im Bereich Öffentliches Recht, Staats- und Verwaltungslehre an der Universität Innsbruck. Bewerbungsfrist: 4.9.2020.

Eine Stelle als Universitätsassistent*in (50-75%, 3 Jahre) im Bereich Unternehmens- und Steuerrecht an der Universität Innsbruck. Bewerbungsfrist: 5.9.2020.

Eine weitere Stelle als Universitätsassistent*in (50-75%, 3 Jahre) im Bereich Unternehmens- und Steuerrecht an der Universität Innsbruck. Bewerbungsfrist: 5.9.2020.

Noch eine Stelle als Universitätsassistent*in (50-75%, 1 Jahr) im Bereich Unternehmens- und Steuerrecht an der Universität Innsbruck. Bewerbungsfrist: 5.9.2020.

Eine Stelle als Universitätsassistent*in (50-75%, 4 Jahre) im Bereich Europarecht und Völkerrecht an der Universität Innsbruck. Bewerbungsfrist: 12.9.2020.

Bis zu drei Stellen als Universitätsassistent*in („prae doc“, 75%) im Rahmen der Advanced Research School in Law and Jurisprudence an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien. Bewerbungsfrist: 14.9.2020.

Eine Stelle als Chargé de recherches juridiques en droit germanqiue in der rechtsvergleichenden Abteilung des Conseil d’Etat in Paris. Bewerbungsfrist: 15.9.2020.

Eine Stelle als wissenschaftliche*r Beschäftigte*r (50%) an der Professur für Öffentliches Recht (Prof. Dr. Lothar Michael) der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Bewerbungsfrist: 1.9.2020.

Eine Stelle als wissenschaftliche*r Mitarbeiter*in am Lehrstuhl für Öffentliches Recht, insbesondere Umweltrecht (Prof. Dr. Micheal Kotulla) der Universität Bielefeld. Bewerbungsfrist: 2.9.2020.

Eine Stelle als wissenschaftliche*r Mitarbeiter*in am Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Völkerrecht, Rechtsphilosophie und Bildungsrecht (Prof.‘in Dr. Angelika Siehr, LL.M.) der Universität Bielefeld. Bewerbungsfrist: 10.9.2020.

Call for Papers

Call for Abstracts für die Auftaktkonferenz „Autonomie oder Kontrolle?“ des Forums „Junges Digitales Recht (JDR)“ am 23.7.2021 in Göttingen. Einsendeschluss: 1.11.2020.

Call for Exposés für die Interdisziplinäre Tagung „Ungleichheiten des Rechts – Zwischen Anerkennung und Distribution“ in Hamburg vom 21.-22.1.2021. Einsendeschluss: 14.10.2020.

Das finden wir spannend

OVG Berlin-Brandenburg erlaubt Corona-Demo unter Auflagen

Insbesondere auch i.V. damit interessant: BVerfG lehnt Eilantrag gegen das Verbot einer Dauermahnwache in Berlin ab

BayVerfGH zur Bayerischen Grenzpolizei

Berliner Kopftuchverbot zu weitgehend

Bund und Länder verschärfen Corona-Regeln

 

Wir nehmen Hinweise auf Stellenausschreibungen, Summer Schools, Calls for Papers etc. gern kostenlos in unseren Servicepost am Montag auf. Schreibt uns an service@juwiss.de.

Post aus Münster: Wissenschaft bedeutet auch Kontroverse – Werkstattbericht zum neuen Diskussionsformat

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vom Organisationsteam JTÖR Münster 2021

Wissenschaftlicher Austausch lebt von klaren Positionierungen, Kontroversen und – gelegentlich – auch Zuspitzungen. Dies wollen wir auf der 61. JTÖR in den Vordergrund rücken. Deshalb haben wir uns etwas Neues ausgedacht. Neben dem „klassischen“ Vortragsformat wird es ein Format geben, bei dem sich die Gewichte etwas verschieben: hin zu pointierteren Impulsvorträgen und längeren Diskussionen. In diesem Werkstattbericht möchten wir Euch zum einen darlegen, was wir uns unter diesem Format vorstellen, und Euch darüber hinaus einige Hinweise zur Bewerbung geben.

Das Konzept

Mit dem neuen Impulsvortragsformat soll noch mehr Raum für die Interaktion zwischen den beiden Referent*innen, aber insbesondere auch im und mit dem Publikum geschaffen werden. Dafür sieht das Format jeweils 10-minütige Impulsvorträge der Referent*innen vor, die den Boden für die anschließende Diskussion bereiten sollen. Durch die gegenüber dem klassischen Format kürzere Vortragsdauer und die konträren Positionen der Referent*innen sollen sich dabei mehr Zeit und Anknüpfungspunkte für diese Debatten ergeben.

Die Diskussionsthemen

Wir haben uns dafür entschieden, die Themen für die beiden Impulsvortragspanels vorzugeben. Das erste Panel wird sich der aktuellen Frage widmen, ob und inwieweit Gerichte die politischen Verfassungsorgane zu einer entschlosseneren Bekämpfung des Klimawandels zwingen dürfen. Das zweite Panel wird sich demgegenüber einem zeitloseren Thema zuwenden, nämlich der Frage, ob Lobbyismus Fluch oder Segen für den demokratischen Willensbildungsprozess ist. Näheres zu den beiden Panelthemen findet sich bereits in unserem Call for Exposés. Bewusst haben wir dagegen davon abgesehen, Euch genauere Vorgaben zum methodischen Zugriff zu machen. Wie genau Ihr das Thema angehen wollt, bleibt ebenso Euch überlassen wie die Wahl der einzelnen Aspekte, die Ihr in Eurem Beitrag hervorheben wollt. Im Folgenden möchten wir Euch dennoch einige Handreichungen geben, worauf es uns als Organisationsteam beim neuen Diskussionsformat besonders ankommt.

Meinungsstärke

Wie bereits in unseren 9 Tipps für ein starkes Exposé beschrieben, sollte Euer Exposé zunächst einmal möglichst bestimmt umreißen, wie Ihr Euch zu den Fragen des Panels verhalten möchtet. Die beiden Diskussionspanels zielen vor allem darauf ab, Raum für einen kontroversen Austausch zu eröffnen. Daraus ergibt sich eine Präferenz für meinungsstarke und pointierte Beiträge. Traut Euch also, im Exposé und im Beitrag einen klaren Standpunkt einzunehmen. Es gilt dabei trotzdem derselbe wissenschaftliche Anspruch wie bei den „klassischen“ Beiträgen.

Inhaltlicher Anspruch und methodischer Zugriff

Die Überthemen für die beiden Diskussionspanels haben wir bewusst so gewählt, dass sie eine Vielzahl von Aspekten berühren, die erörtert werden können. Uns ist klar, dass die Limitierung der Vortragszeit es Euch kaum erlauben wird, Euer Thema auch nur annäherungsweise erschöpfend zu behandeln. Hier kommt es also entscheidend auf die Schwerpunktsetzung an. Ebenso erlauben die Überthemen eine Vielzahl verschiedener methodischer Zugriffe. Wir möchten keinen dieser Zugriffe privilegieren. Es steht Euch also offen, die Diskussionsthemen beispielsweise aus einer rechtssoziologischen, -vergleichenden, -dogmatischen oder -geschichtlichen Perspektive zu betrachten.

Verhältnis zum anderen Beitrag

Bei der Auswahl werden wir die Beiträge neben der inhaltlichen Qualität und der Meinungsstärke auch danach begutachten, wie gut der jeweilige Beitrag zum anderen Beitrag in Bezug zu setzen ist. Das bedeutet, dass wir pro Panel zwei Vorträge auswählen werden, die entgegengesetzte Positionen einnehmen. Diese müssen aber nicht notwendigerweise den gleichen methodischen Zugriff wählen. Schließlich kann die Debatte von unterschiedlichen Perspektiven auch gerade profitieren. Zudem können im Rahmen der Diskussion aus den Reihen des Publikums weitere Aspekte ergänzt werden.

Das bringt uns zu einem weiteren Punkt: (offengelegten oder verdeckten) Tandem-Bewerbungen. Es ist uns wichtig, dass die Impulsvorträge in einer genuinen Diskussion münden. Solltet ihr euch also im Tandem bewerben, ist unbedingt darauf zu achten, dass keine inszenierte Debatte entsteht.

Impulsvortrag und Diskussion

10 Minuten sind für einen Vortrag nicht viel Zeit. Umso mehr kommt es darauf an, dass Ihr diese knappe Zeit gut strukturiert und die Aspekte, die Ihr besonders hervorheben möchtet, nicht zu kurz kommen lasst. Oft genug bedeutet das, sich auf die wenigen, aus Eurer Sicht wichtigsten Punkte zu beschränken, und eher Denkanstöße denn feinst verästelte Argumentationsstrukturen für die Debatte zu liefern. Weniger ist oftmals mehr! Wichtig ist es uns auch, zu betonen, dass die Diskussion keinen Debattierwettbewerb darstellt. Es kommt uns also nicht darauf an, am Ende der Diskussion unter den beiden Referent*innen eine*n Sieger*in zu küren. In diesem neuen Format möchten wir gerade das Publikum intensiver einbinden. Die Moderation übernimmt – wie beim klassischen Format auch – jemand aus den Reihen des Organisationsteams. Das soll es Euch als Referent*innen erleichtern, euch voll und ganz auf die inhaltliche Dimension der Diskussion fokussieren zu können.

Bewerbung und spätere Publikation im Tagungsband

Die Bewerbung für die Teilnahme am Diskussionspanel richtet sich nach denselben Bedingungen wie die Bewerbung für einen „klassischen“ Vortrag. Nähere Informationen dazu findet Ihr bereits im Call for Exposés.

Die für dieses Format erstellten Beiträge werden im Rahmen der Publikation genauso behandelt wie die des „klassischen“ Formats. Ihr werdet also genauso viel Raum für die schriftliche Entwicklung und Darstellung Eurer Gedanken haben.

Wir freuen uns auf Eure Einsendungen und spannende Diskussionen mit Euch auf der 61. JTÖR!

 

Zitiervorschlag: Organisationsteam JTÖR Münster 2021, Post aus Münster: Wissenschaft bedeutet auch Kontroverse – Werkstattbericht zum neuen Diskussionsformat, JuWissBlog Nr. 112/2020 v. 01.09.2020, https://www.juwiss.de/112-2020/.

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Tu felix Austria quarantäne! Update zu Corona & Law in Österreich

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von ROMAN FRIEDRICH

Anfang April habe ich an dieser Stelle einen groben Überblick gegeben über die ersten Maßnahmen, die der österreichische Gesetz- und Verordnungsgeber anlässlich der Covid-19-Pandemie ergriffen hatte. Mittlerweile ist der Großteil dieser umfangreichen und einschneidenden Regelungen wieder außer Kraft getreten, die Pandemie, so scheint es, zumindest in Deutschland und Österreich unter Kontrolle.

Dennoch: In beiden genannten Staaten steigt die Zahl der Infizierten wieder deutlich an, nicht zuletzt als Folge der für viele doch unerwartet regen Reisetätigkeit. Und außerdem wird die wohlige epidemiologische Sicherheit, die sich Deutschland und Österreich durch frühe rigorose Maßnahmen erarbeitet haben, durch die Bewältigung der wirtschaftlichen Folgen getrübt, die jetzt erst so richtig beginnt.

Mir scheint dies ein passender Zeitpunkt zu sein, das Folgegeschehen in Österreich kurz zu reflektieren, zumal sich jüngst auch der österreichische Verfassungsgerichtshof erstmals inhaltlich zu einigen der „Corona-Maßnahmen“ geäußert hat.

Erste Lockerungen und erste verfassungsgerichtliche Erkenntnisse zur Sachlichkeit verschiedener Maßnahmen

Bereits am Montag nach Ostern erließ der Gesundheitsminister als zuständiger Verordnungsgeber erste Lockerungen in Bezug auf das Betreten von Betriebsstätten: So öffneten, zusätzlich zur freilich die ganze Zeit über offenen „kritischen Infrastruktur“, nun Läden mit Kundenflächen unter 400 m² sowie Garten- und Baumärkte. Dass diese Differenzierung zwischen Garten- und Baumärkten und (sonstigen) Betriebsstätten mit mehr als 400 m² recht willkürlich anmutet, erkannte nun auch der VfGH und erklärte die (mittlerweile außer Kraft getretene) „400 m²-Grenze“ und gleichzeitige „Privilegierung“ der Garten- und Baumärkte für unsachlich und damit gesetzwidrig. Bau- und Gartenmärkten komme für Verrichtungen des täglichen Lebens nämlich keine vergleichbare Bedeutung zu wie die vom Betretungsverbot (und damit auch von der 400 m²-Grenze) von vornherein ausgenommenen Betriebsstätten (Lebensmittelhandel, Apotheken, etc.).

Etwa zeitgleich verordnete der Gesundheitsminister mit 14. April die „Maskenpflicht“ in sämtlichen Betriebsstätten und öffentlichen Verkehrsmitteln. Möglich wurde dies durch die Novellierung des Covid-19-Maßnahmengesetzes, die den Verordnungsgeber zur Regelung von Voraussetzungen für das Betreten von Betriebsstätten ermächtigte.

In freitäglichen Öffnungsschritten öffneten in weiterer Folge mit 1. Mai die übrigen noch geschlossenen Läden, mit 15. Mai die Gastronomiebetriebe und mit 29. Mai die Hotels. Dies entsprach der politischen Vorgabe der schrittweisen Lockerung und vollzog sich legistisch durch ständige Novellierungen der ab 1. Mai geltenden COVID-19-Lockerungsverordnung. Die damit verbundenen Fragen nach der Sachlichkeit der Chronologie – wer darf wann öffnen und warum? – zeigen sich etwa anhand der erwähnten „400 m²-Grenze“ für Betriebsstätten.

Mit 1. Mai fiel auch die wohl gravierendste und umstrittenste Maßnahme, das Betretungsverbot sämtlicher öffentlicher Orte, stets verbunden mit fünf Ausnahmen. Auf die Frage nach der Gesetzeskonformität des Betretungsverbots habe ich (mit Verweis auf andere) an dieser Stelle bereits hingewiesen. In einem (von einem Zivilrechts-Kollegen angestrengten) Verordnungsprüfungsverfahren stimmte der VfGH nun in seinem Erkenntnis vom 14. Juli mit der vielfach geäußerten ExpertInnen-Kritik überein und sprach aus, dass die gesetzliche Grundlage das bis 30. April in Geltung gestandene Betretungsverbot nicht gedeckt hatte: Während § 2 Covid-19-Maßnahmengesetz das Betretungsverbot für „bestimmte Orte“ (Hervorhebung durch mich) per Verordnung gestatte, habe der zuständige Bundesminister diese Ermächtigung mit dem Betretungsverbot für sämtliche öffentliche Orte überschritten. Die Verordnung war zwar längst außer Kraft getreten, weshalb sich der VfGH mit der Feststellung der Gesetzwidrigkeit begnügen (Art. 139 Abs. 4 B-VG) musste, doch ordnete er an, dass die Bestimmung auch über den konkreten Anlassfall hinaus nicht mehr anzuwenden ist. Damit machte der Gerichtshof Gebrauch von seiner Möglichkeit, von der Regel abzugehen, wonach die aufgehobene Verordnung auf vor der Aufhebung verwirklichte Tatbestände mit Ausnahme des Anlassfalles weiterhin anzuwenden ist.

Umfangreiche Verordnungsermächtigungen? Wegfall der Entschädigungspflicht? In einer krisenhaften Situation verfassungsgemäß

Während der VfGH damit zwei Kernstücken des normativen Anti-Corona-Mosaiks die Gesetzwidrigkeit beschied, ist zu konstatieren, dass davon der Großteil der „Corona-Maßnahmen“ – ob noch in Kraft oder nicht – unberührt bleibt. In zwei elementaren Punkten teilte der Gerichtshof die dagegen erhobenen verfassungsrechtlichen Bedenken ausdrücklich nicht: Weder waren die umfangreichen Verordnungsermächtigungen des Covid-19-Maßnahmengesetzes selbst verfassungswidrig (etwa weil zu unbestimmt), noch war dies die durch Schaffung eines eigenen Regelungsregimes für Covid-19 weitestgehend ausgeschaltete Entschädigungspflicht für geschlossene Betriebsstätten gemäß Epidemiegesetz 1950. Begründend anerkannte der Gerichtshof mehrfach, dass die Maßnahmen als „Reaktion des Gesetzgebers auf eine krisenhafte Situation“ „unter erheblichem Zeitdruck“ getroffen werden mussten und (insbesondere mit Blick auf die entfallene Entschädigungspflicht) in ein umfassendes Rettungspaket eingeflochten waren, wodurch der Wegfall der Entschädigung teilweise kompensiert wird. Diese Begründung ist nachvollziehbar, zumal der VfGH die einzelnen „Rettungsmaßnahmen“, von der Kurzarbeit bis zum Härtefallfonds, gründlich herausarbeitete. Ein Sonderopfer, das jedenfalls eine Entschädigungspflicht des Staates zur Folge hätte, lag nach Ansicht des VfGH schon deshalb nicht vor, weil alle Handels- und Dienstleistungsunternehmen abseits der „kritischen Infrastruktur“ betroffen waren. Bezogen auf den Verdacht der Gleichheitswidrigkeit verwies der Gerichtshof erwartungsgemäß auf seine ständige Judikatur, wonach der Gesetzgeber von einem gewählten System (hier: Epidemiegesetz 1950 samt Entschädigungen) in sachlicher Weise auch wieder abgehen kann (hier: Covid-19-Maßnahmengesetz).

Und aktuell: Zurück zur „MNS-Pflicht“, zurück aus dem Urlaub in Risikogebieten?

Während die Wissenschaft derzeit einen breiteren Blick auf coronabezogene Fragen einnimmt und gleichzeitig künftige Problematiken, wie etwa eine allfällige Anti-Corona-Impfpflicht, antizipiert, kreist die von steigenden Infektionszahlen beeinflusste politische Debatte aktuell um die Wiedereinführung der „MNS“-Pflicht in den Kundenbereichen bestimmter Betriebsstätten (insbesondere Lebensmittelhandel, Apotheken, Banken und Post) mit 24. Juli sowie die rezenten Reisewarnungen für beliebte Urlaubsgebiete, jüngst insbesondere Kroatien und die Balearen, samt Quarantäne-Pflicht für RückkehrerInnen. Ersteres scheint angesichts der erwiesenen Wirkung von „Masken“ sinnvoll; außerdem ist – im Gegensatz zur Stammfassung des Covid-19-Maßnahmengesetzes – mittlerweile gesetzlich klargestellt (§ 1 letzter Satz leg cit), dass derartige Voraussetzungen für das Betreten von Betriebsstätten verordnet werden dürfen. Der Umgang mit RückkehrerInnen aus Urlaubsgebieten gestaltete sich indes problematisch, da die Behörden Unklarheiten bei der Auslegung der jüngsten Einreiseverordnung begegneten oder diese einfach noch nicht kannten. Die Folge: sehr lange Wartezeiten an der Grenze samt damit zusammenhängender Unannehmlichkeiten.

Dazu kommen freilich gelegentliche innerstaatliche „Hotspots“, so etwa am Wolfgangsee im Salzkammergut. Der dortige Ausbruch hat nicht nur den Autor um einen vielversprechenden wissenschaftlichen Aufenthalt im Rahmen der Doktoratsschule seiner Fakultät gebracht, sondern auch eine österreichische Weisheit getrübt, die Peter Alexander als Oberkellner Leopold schon 1960 gesanglich zum Ausdruck brachte: „Im Salzkammergut, da kann man gut lustig sein“. Soweit es das pandemische Geschehen zulässt, muss man derzeit und wohl auch noch für eine Weile konsterniert hinzufügen.

Erneut nur ein Zwischenfazit

Was jedenfalls Fazit des Rückblicks sein muss, ist, dass die Covid-19-Pandemie noch zahlreiche verfassungsrechtliche, insbesondere grundrechtliche Fragen aufwerfen wird. Das von „Lockdown“ & Co geprägte Frühjahr war diesbezüglich unter Umständen bloß ein erster Vorgeschmack. Dieses Fazit ist nun gleichzeitig Auftrag an die Wissenschaft des Öffentlichen Rechts, die rechtspolitischen Entwicklungen (weiterhin) kritisch zu reflektieren; dies gilt umso mehr für uns als junge Öffentlich-RechtlerInnen und ich bin zuversichtlich, dass dieser Blog auch weiterhin eine Plattform für kritisch-reflexive Betrachtungen bieten wird. Die politischen Entscheidungsträger, jene also, die das Recht schaffen, sollten die Erkenntnisse der vergangenen Monate, verfassungsgerichtliche Entscheidungen wie rechtswissenschaftliche Forschungsergebnisse, zum Anlass nehmen, in Hinkunft noch größere Treue gegenüber den verfassungsrechtlichen Anforderungen an ihr Handeln an den Tag zu legen.

Damit, so könnte man meinen, sind die Hausaufgaben pünktlich zum Schulbeginn verteilt. Es wird schließlich ein heißer Herbst.

Der Autor dankt Herrn Mag. Florian Werni, BA für einige wesentliche Anmerkungen.

 

Zitiervorschlag: Roman Friedrich, Tu felix Austria quarantäne! Update zu Corona & Law in Österreich, JuWissBlog Nr. 113/2020 v. 03.09.2020, https://www.juwiss.de/113-2020/

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Stellen

Zehn Stellen (jew. 50%) für Doktorand/innen im Forschungskolleg „Religiöse Pluralität und ihre Regulierung in der Region“ an der Ruhr Universität Bochum und der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, befristet vom 01.01.2021–30.06.2024, Bewerbungsfrist 25. September 2020

Zwei Stellen als Wissenschaftliche Mitarbeiter/innen (je 50 %) im Öffentlichen Recht, Völker- und Europarecht, an der Professur für Öffentliches Recht, insbesondere Völker- und Europarecht der Universität Trier (Prof. Dr. Birgit Peters, LL.M.), befristet auf zwei Jahre, Bewerbungsfrist 15.09.2020

Eine Stelle als Wissenschaftliche/r Mitarbeiter/in (50%) im Bereich internationales Umweltrecht (Bereich Umweltschutz und Menschenrechte), an der Professur für Öffentliches Recht, insbesondere Völker- und Europarecht (Prof. Dr. Birgit Peters, LL.M.), befristet auf drei Jahre, Bewerbungsfrist 15.09.2020

Call for Papers

Call for Papers für das Rechtswissenschaftliche Kolloquium „100 Jahre Liechtensteinische Verfassung“ in Liechtenstein am 17.-18. Juni 2021. Einsendeschluss: 01. Oktober 2020

Call for Abstracts für die 12. Düsseldorfer Graduiertenkonferenz Parteienwissenschaften (GraPa) in Düsseldorf am 26.-27. Februar 2021, Einsendeschluss: 31. Oktober 2020
Call for Papers für die 4. Young European Law Scholars Conference zum Thema „Back to Beginnings – Revisiting the Preambles of European Treaties“ in Zürich am 20.-21. Mai 2021, Einsendeschluss: 15.10.2020
Call for Posters für die Tagung „Anwaltschaft im Blick der Wissenschaft“ in Hannover am 13. November 2020, Einsendeschluss: 30. September 2020

Das finden wir spannend

Zahlreiche anstehende Entscheidungen des EGMR, insbesondere B.G. and Others v. France (no. 63141/13) zur Frage der Konventionskonformität der Unterbringung von Schutzsuchenden in einem Zeltcamp

Vorübergehende Aussetzung der Ernennung eines neuen Generalanwalts am EuGH

Ein österreichisches NetzDG?

USA verhängen Sanktionen gegen Chefanklägerin des IStGH

 

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Jurist*in zur Projektbegleitung „UDVeo – Urbaner Drohnen-Verkehr effizient organisiert“, 100 %, Behörde für Wirtschaft und Innovation, Amt Wirtschaft, Abteilung Luftverkehr, Hamburg, Bewerbungsfrist: 18.09.2020

Wissenschaftliche*r Mitarbeiter*in in einem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Forschungsprojekt, Forschungsinstitut der Hessischen Hochschule für Polizei und Verwaltung (Prof. Dr. Georgios Terizakis), Bewerbungsfrist: 20.09.2020

Post-Doc in einem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Forschungsprojekt, Forschungsinstitut der Hessischen Hochschule für Polizei und Verwaltung (Prof. Dr. Georgios Terizakis), Bewerbungsfrist: 30.09.2020

Wissenschaftliche*r Mitarbeiter*in, 65 %, Lehrstuhl für Staats- und Verwaltungsrecht, Europarecht und Völkerrecht (Prof. Dr. Martin Nettesheim), Universität Tübingen, Bewerbungsfrist: 15.10.2020

Das finden wir spannend

Entwurf zu einem Gesetz zur Einführung eines Lobbyregisters veröffentlicht

Brexit: Britische Regierung plant möglicherweise völkerrechtswidriges Binnenmarktgesetz

VG Berlin zur Rechtswidrigkeit von Pop-Up-Radwegen

RAK Berlin durfte zur Teilnahme an #unteilbar-Demo aufrufen

OVG NRW, OVG Sachsen-Anhalt und OVG Lüneburg entscheidet über Prostitutionsverbot in Corona-Verordnungen

Berlin geht neue Wege bei der Ausbildung von Referendarinnen mit Kopftuch


Digital forschen und promovieren in Zeiten der Corona-Krise

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von SARAH CICHON und RUTH WEBER

Die Covid-19-Pandemie stellt die Universitäten vor große Herausforderungen. Im Mittelpunkt der Diskussionen stehen hauptsächlich die universitäre Lehre, digitale Lehr- und Lernformate sowie der Zugang zu Materialien und Prüfungen. Doch was genau bedeutet die Krise für die Wissenschaft? Wir möchten uns dieser Frage nähern, indem wir über einige der Hürden, aber auch positive Erfahrungen der letzten Monaten in unserem Forschungsverbund, dem DFG-Graduiertenkolleg DynamInt, berichten.

„A pandemic isn’t a writing retreat“

Kern von (rechtswissenschaftlichen) Qualifikationsvorhaben ist die Erstellung eines Textes, welcher wissenschaftlichen Standards genügt. Ein Lockdown und der damit einhergehende Stillstand des öffentlichen Lebens bieten auf den ersten Blick vermeintlich ideale Bedingungen für einen „writing retreat“, einen Rückzugsraum zum konzentrierten wissenschaftlichen Arbeiten und Schreiben. Die Realität widersprach jedoch zum Großteil dieser Idealvorstellung, die zunächst zu Beginn des Lockdowns sowohl von persönlichen Ängsten und Sorgen als auch von eingeschränkten Reisemöglichkeiten geprägt war. Wie in dieser Zeit schreiben? Mit Nachdruck veranschaulichte dies die französische Schriftstellerin Leila Slimani in ihrem Corona-Tagebuch: „Man müsste nicht schreiben, denn die Realität ist zu groß, zu enorm, zu gegenwärtig. Sie zerfrisst uns von innen, man fühlt sich ihr gegenüber ein bisschen lächerlich mit seinen dummen, hilflosen Worten.“ Genau diese Konfrontation mit großen, existenziellen Fragen mischte sich in die tägliche Arbeit in unserem Graduiertenkolleg. Dabei stellte sich häufig die Frage: Soll ich nun mit meinem eigenen Projekt vorankommen, die allgemeine (wissenschaftliche) Debatte zur Krise verfolgen – oder an ihr sogar teilnehmen? Die Thesen von gestern hatten heute schon keinen Bestand mehr und würden spätestens morgen vom nächsten Blogpost abgelöst. Wie ein Twitternutzer es ausdrückte: Als die Seuchenkrise dann ihren Höhepunkt erreicht hatte, waren alle Thesen schon vergriffen.“

Neben mentale Belastungen gesellten sich organisatorische Herausforderungen – angesichts von Digitalisierungsbestrebungen nicht gänzlich neu, aber auf einmal von akuter Brisanz: Zwar ist die rechtswissenschaftliche Forschungsarbeit unabhängiger von ortsgebundenen technischen Mitteln als andere wissenschaftliche Disziplinen, jedoch bilden ein ausgestatteter Arbeitsplatz und mangels flächendeckender Digitalisierung rechtswissenschaftlicher Literatur der Zugang zu einer juristischen Fachbibliothek ihre unabdingbaren Grundvoraussetzungen. Insbesondere in Spezialgebieten und im internationalen Bereich ist ein umfassender Digitalzugang allein aufgrund hoher Kosten quasi unmöglich. Dies entfachte Debatten über Bezahlschranken (Paywalls) sowie den freien Zugang zu wissenschaftlichen Publikationen und sonstigen Ressourcen im Internet (Open Access), der bisher in der (deutschen) Rechtswissenschaft nur selten zur Verfügung gestellt wird. Wenngleich eine Aufstockung der Digitalangebote seitens der Universitätsbibliothek erfolgte, stellte der Zugang zu diesen über einen VPN-Fernzugriff für am Anfang ihrer Forschung stehende Wissenschaftler*innen eine weitere Hürde dar. Zum produktiven Arbeiten sind zudem eine stabile Internetverbindung sowie für die Forschungsarbeit erforderliche Hard- und Software (darunter auch Zitier- und Literaturverwaltungsprogramme) unabdingbar, zu denen der Zugang nicht flächendeckend gesichert ist. Das wirft Fragen nach Chancengleichheit im Wissenschaftsbetrieb auf.

„I think we need to stop calling it ‚working from home‘ and start calling it ‚living at work’“

Die Forschung vom heimischen Schreibtisch ist von ähnlichen Herausforderungen geprägt wie die Arbeit im Homeoffice außerhalb der Wissenschaft. Zwar arbeiteten Wissenschaftler*innen als Berufstätige, die hauptsächlich kognitive und kreative Tätigkeiten ausüben, im Vergleich zu anderen Berufsgruppen schon vor der Pandemie häufiger zu Hause. So zeigte Brenke auf der Basis deskriptiver Auswertungen des Mikrozensus, dass bereits im Jahr 2011 der Anteil zu Hause arbeitender Personen unter den Lehrer*innen, Psycholog*innen und Wissenschaftler*innen besonders hoch war, während in Bau-, Fertigungs- und Verkaufsberufen kaum zu Hause gearbeitet wurde. Die positiven Effekte des Home Office, etwa im Hinblick auf die Vereinbarkeit von Beruf und Familie, aber auch, was die Steigerung von Zufriedenheit und Produktivität angeht, traten allerdings mit der pandemiebedingten Umstellung auf die Arbeit ausschließlich im Home Office in den Hintergrund: Es erfolgte eine zwangsweise Veränderung, die sich von der freiwilligen Entscheidung, teilweise zu Hause zu arbeiten, unterscheidet. Neben Konzentrationsschwierigkeiten und mentalen Belastungen durch die Krise besteht eine ungleich größere Gefahr der „Entgrenzung“ durch die Verwischung von Arbeit- und Privatleben. Die Bezeichnung als idealer „writing retreat“ für alle scheint daher wenig passend zu sein.

Gleichermaßen besorgniserregend ist die Beobachtung, dass „Frauen als Verliererinnen der Corona-Krise“ gelten. Dies ist ein gesamtgesellschaftliches Phänomen, das sich auch in der Wissenschaft zeigt. Publikationen im englischsprachigen Raum weisen bereits jetzt darauf hin, dass im akademischen Bereich eine deutliche Mehrbelastung von Frauen festzustellen ist, die sich etwa in einem geringeren Publikationsoutput äußert. Ähnliche Tendenzen lassen sich in der deutschen Rechtswissenschaft beobachten. Eine kursorische Bestandsaufnahme zeigt, dass etwa in der JZ sowie auf dem Verfassungsblog und JuWissBlog in den ersten Wochen der Pandemie deutlich mehr Männer als Frauen publizierten. Zwar reagierten Universitäten mit Angeboten zur Notbetreuung, jedoch konnten die meisten rein wissenschaftlich Tätigen nicht darauf zurückgreifen. Es scheint dadurch besonders notwendig, Initiativen zur Gleichstellung und Förderung von Frauen auch in der Wissenschaft „pandemiesicher“ zu gestalten, wie es beispielsweise der Verein für Socialpolitik in einem Brief an mehrere Forschungsinstitutionen forderte.

„Ohne Corona (und Skype) hätte ich nie erfahren, dass deutsche Professoren Schlümpfe-Setzkästen und Lavalampen in ihren Wohnungen stehen haben.”

Was bedeutet die Krise für rechtswissenschaftliche Forschungsprojekte? In den ersten Wochen der Pandemie überschlugen sich die Debattenbeiträge in nahezu allen Rechtsgebieten: Die Verfassungsrechtswissenschaft begleitete die Pandemiepolitik mit strengem Blick, Gerichte stellten ihre Arbeit um, neue Zeitschriften und Kommentare wurden gegründet… die Bekämpfung des Virus stellte viele alte Rechtsfragen neu oder eben auch gänzlich neue Rechtsfragen. Für junge Forschende können schnell Zweifel aufkommen, ob die gerade erst entwickelte und für relevant gehaltene Forschungsfrage noch aktuell erscheint. Gleichzeitig hielt einen das interessierte Verfolgen der Ereignisse auf Trab und der Fokus auf die eigenen Fragestellungen geriet ins Wanken. Kolloquien, Vortragsreihen und Workshops als Kern gemeinsamer wissenschaftlicher Arbeit im Graduiertenkolleg wurden schnell auf Videokonferenzen umgestellt. Sehr hilfreich für die digitale Umstellung der Forschungszusammenarbeit waren und sind dabei Leitfäden mit Hinweisen zur Gestaltung von interaktiven Digitalformaten, die etwa vom Hochschulforum Digitalisierung bereitgestellt werden.

Gerade für akademischen Nachwuchs ist es besonders wichtig, sich im Wege des informellen Austauschs mit dem wissenschaftlichen Arbeiten vertraut zu machen sowie neue Impulse zu gewinnen. Onlinekonferenzen und Twitterkanäle können analoge Diskussionsrunden und informelle Flurgespräche, die (auch räumlich) eine dynamischere Interaktion ermöglichen, nicht ersetzen. Gleichzeitig zeigt sich deutlich, dass sich Kommunikations- und Gruppenstrukturen im virtuellen Raum durch die Bindung an technische Möglichkeiten und Kommunikationsformate verändern. Sie können zum einen an jeweilige Bedürfnisse individuell angepasst werden und setzen zum anderen neue Regeln für die Interaktion innerhalb der Gruppe. So führte etwa die digital leicht einzubauende rotierende Moderation durch Promovierende sowie die gleichberechtigte Nutzung des Chatkanals zur Wortmeldung und für kurze Zwischenfragen zu einem Abbau von Hierarchien. Digitale Veranstaltungsformate bieten den evidenten Vorteil örtlicher Flexibilität sowie einer kurzfristigeren Teilnahme. So wurden auch die Teilnehmer*innenzahlen internationaler und exklusiver Konferenzen erhöht; hohe Kosten und strenge Teilnahmebeschränkungen standen einer Teilnahme Promovierender nicht mehr im Weg. Dies begünstigte einen Hierarchieabbau und neuen Input für die eigenen Forschungsprojekte. Auch innerhalb unseres Graduiertenkollegs entstanden kurzfristig einberufene Initiativen wie Vorträge, Besprechungsrunden und kleine Konferenzen zu aktuellen rechtlichen Themen. Die digitalen Strukturen und der Wegfall von Hürden, wie etwa der Raumorganisation, förderten Eigeninitiative und Flexibilität.

Auch die Rahmenbedingungen für Forschungs- und Promotionsprojekte haben sich gewandelt. DFG und DAAD verlautbarten schnell, coronabedingte Verzögerungen zu berücksichtigen. Von besonderem Interesse ist für die Forschung, inwieweit der Arbeitsplatz und Forschungsstandort Universität weiterhin hauptsächlich digital bleibt. Einige, wie Eva Inés Obergfell, HU-Vizepräsidentin für Lehre und Studium, mahnen zu Vorsicht, andere befürworten mit einiger Vehemenz, Präsenzveranstaltungen wieder stattfinden zu lassen. „Ohne die Gemeinschaft der Lehrenden und Lernenden gibt es keine Universität.“, sagte der Dekan der Juristischen Fakultät, Martin Heger. Die Frage, wie auch wir als Graduiertenkolleg mit dieser zukünftigen Unsicherheit umgehen werden, stellt sich nach wie vor: Kann Forschung ohne Interaktion in der analogen Welt funktionieren? Was lernen wir aus der Krise in Bezug auf erfolgreiche wissenschaftliche Kommunikation? Wie können die Flexibilität digitaler Veranstaltungen beibehalten und gleichzeitig die unverzichtbaren persönlichen Kontakte wiederbelebt werden? Entscheidend erscheint es uns zunächst, dass ein Diskurs darüber stattfindet, wo – wenn nicht analog möglich – neue wissenschaftliche Kommunikationsräume entstehen, und ob und wie diese funktionieren, um eine gelungene Forschungszusammenarbeit aufrechtzuerhalten und nachhaltig zu sichern.

Zitiervorschlag: Sarah Cichon/Ruth Weber, Digital forschen und promovieren in Zeiten der Corona-Krise, JuWissBlog Nr. 114/2020 v. 17.09.2020, https://www.juwiss.de/114-2020/

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Wissenschaftliche*r Mitarbeiter*in, E 13, 50 %, Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Verfassungstheorie (Prof. Dr. Oliver Lepsius, LL.M.), Universität Münster, Bewerbungsfrist: 09.10.2020

Wissenschaftliche*r Mitarbeiter*in, E 13, 75 %, Lehrstuhl für Staats- und Verwaltungsrecht, Rechtsvergleichung und Europarecht (Prof. Dr. Elke Gurlit), Universität Mainz, Bewerbungsfrist: 31.10.2020

W1-Juniorprofessur Staats- und Verwaltungsrecht mit Schwerpunkt Recht der Politik (mit Tenure Track auf W3), Universität Leipzig

Doctoral fellowship, Graduate School Scholarship Programme (GSSP) des DAAD, angegliedert am DFG-Graduiertenkolleg Dynamische Integrationsordnung, Humboldt-Universität zu Berlin

International PostDoc, E 13, 100 %, angegliedert am DFG-Graduiertenkolleg Dynamische Integrationsordnung, Humboldt-Universität zu Berlin

Das finden wir spannend

Verfassungsrechtliche Bedenken gegen das Gesetz zur Bekämpfung von Hasskriminalität

CDU Thüringen will Quote per Verfassung verbieten

Rechtsextremismus in der Polizei

Tod der Ikone Ruth Bader Ginsburg

 

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Zur Umsiedlung von unbegleiteten minderjährigen Antragsteller*innen

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Foto Thomas Matthiesvon THOMAS MATTHIES

Der Brand im Flüchtlingslager Moria und die anschließende Obdachlosigkeit der Asylbewerber*innen haben die europäische Gesellschaft in Aufruhr versetzt. Schnell wurden Rufe nach Umsiedlungen der betroffenen Personen und einer Entlastung Griechenlands laut. Bevor die Bundesregierung die Aufnahme von 1.553 Personen beschloss, einigte sie sich zunächst auf die Aufnahme von rund 150 unbegleiteten minderjährigen Antragsteller*innen. Diese sind noch nicht als Schutzberechtigte anerkannt. Die Dublin III-Verordnung legt den für sie zuständigen Mitgliedstaat fest. Erlaubt diese Verordnung die Überstellung der Minderjährigen nach Deutschland?

Ein kurzer zeitlicher Rückblick: Bis zum Corona-Lockdown wurden bereits Personen aus sog. Seenotrettungsfällen auf Staaten einer sog. „Koalition der Willigen“ umverteilt. Im Rahmen dieses Verfahrens wurden wohl etwas weniger als 20 % der geretteten Schutzsuchenden umverteilt. Hiernach begann im Mai 2020 eine andere „Koalition der Willigen“ mit der Umverteilung von besonders schutzbedürftigen Minderjährigen aus griechischen Hotspots. Über dieses Umsiedlungsprojekt kamen bisher rund 250 minderjährige Antragsteller*innen mit ihren Familienangehörigen nach Deutschland. Der Aufnahme von Schutzsuchenden stand eine rigorosere Ablehnung von Dublin-Familienzusammenführungen gegenüber (vgl. ProAsyl und bspw. VG Freiburg, Rn. 37-39), bevor die Corona-Pandemie Dublin-Familienzusammenführungen bis Mitte Juni 2020 vollständig verhinderte.

Umsiedlungen auf Grundlage der Dublin III-Verordnung

Die Dublin III-Verordnung legt die Zuständigkeit eines Mitgliedstaates für die Bearbeitung eines Asylantrages und für die Aufnahme des betroffenen Antragstellers fest. Eine Zuständigkeit ergibt sich nicht aus Art. 8 Dublin III-Verordnung. Denn dieser erfordert familiäre Verbindungen des Minderjährigen zu dem aufnehmenden Staat; dort müssen also Familienangehörige oder Verwandte leben. Dann handelt es sich jedoch nicht um einen Umsiedlungsfall, sondern um einen „regulären“ Dublin-Fall. Art. 8 Dublin III-Verordnung ist daher nicht einschlägig.

In aller Regel kann die Umsiedlung der minderjährigen Antragsteller*innen nur aufgrund von Art. 17 Dublin III-Verordnung erfolgen. Dessen erster Absatz scheidet als Zuständigkeitsnorm aufgrund seines Wortlautes („kann jeder Mitgliedstaat beschließen, einen bei ihm […] gestellten Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen“; Hervorhebungen nicht im Original) aus. Die unbegleiteten minderjährigen Antragsteller*innen haben noch keinen Asylantrag in dem Aufnahmemitgliedstaat gestellt. Die Zuständigkeitsprüfung beginnt jedoch mit Asylantragstellung (Art. 3 Abs. 1 S. 2 und Art. 20 Abs. 1 Dublin III). Zwar räumt der EuGH den Mitgliedsstaaten im Rahmen des Selbsteintritts ein weites Ermessen ein (s. EuGH, Urt. v. 10. Dezember 2013, Rs. C-394/12, Rn. 57) und betont hier auch die Solidarität (s. EuGH, Urt. v. 26. Juli 2017, Rs. C-646/16, Rn. 100). Der Wortlaut von Art. 17 Abs. 1 Dublin III-Verordnung ist gleichwohl eindeutig. Eine aktive Lastenteilung war auch durch den damaligen Verordnungsgeber nicht bezweckt. Eine Überstellung zum Zwecke der Umsiedlung kann also nicht auf Art. 17 Abs. 1 Dublin III-Verordnung beruhen.

Umsiedlungen auf Grundlage von Art. 17 Abs. 2 Dublin III-Verordnung

Als Zuständigkeitsnorm verbleibt somit nur Art. 17 Abs. 2 Dublin III-Verordnung. Die praktische Bedeutung der Norm ist in den letzten Jahren gestiegen (s. Eurostat, Parameter: Legal Provision (Art. 17.2)). Nach Art. 17 Abs. 2 Dublin III-Verordnung kann ein Mitgliedstaat

„[…] jederzeit einen anderen Mitgliedstaat ersuchen, einen Antragsteller aufzunehmen, aus humanitären Gründen, die sich insbesondere aus dem familiären oder kulturellen Kontext ergeben, um Personen jeder verwandtschaftlichen Beziehung zusammenzuführen, auch wenn der Mitgliedstaat a priori nicht zuständig ist.“

Der Wortlaut von Art. 17 Abs. 2 Dublin III-Verordnung ist missglückt. Einerseits betont Art. 17 Abs. 2 den Verwandtschaftsaspekt. Andererseits bezieht sich die Norm auf humanitäre Gründe, die auch kultureller Art sein können. Ob Art. 17 Abs. 2 eine Überstellung nur ermöglicht, wenn in dem aufnehmenden Staat Angehörige des Antragstellers wohnen, geht aus dem Wortlaut der Norm zumindest nicht eindeutig hervor. Der EuGH hat den Mitgliedstaaten auch hier ein weites Ermessen eingeräumt (so EuGH, Urt. v. 10. Dezember 2013, Rs. C-394/12, Rn. 57 und Urt. v. 6. November 2012, Rs. C-245/12, Rn. 27). Doch zumindest ist zweifelhaft, ob Umsiedlungsaktionen auf Art. 17 Abs. 2 Dublin III-Verordnung gestützt werden können.

Hierfür spricht, dass die Antragsteller*innen einer Überstellung zustimmen müssen und somit alle beteiligten Parteien für eine Überstellung sind. Auch schwebt über Art. 17 Abs. 2 Dublin III-Verordnung der Geist der Solidarität, s. 25. Erwägungsgrund Dublin III-Verordnung und Art. 80 AEUV. Gleichwohl sprechen die Betonung des Aspekts der Verwandtschaftszusammenführung in Art. 17 Abs. 2 und der im Gegensatz zum vorstehenden ersten Absatz enger gefasste Wortlaut dagegen. Die Dublin III-Verordnung setzt im Übrigen immer eine irgendwie geartete Verbindung der Antragsteller zum Aufnahmemitgliedstaat, sei es etwa in Form einer illegalen Einreise, voraus.

Zumindest die Umsiedlung minderjähriger Antragsteller*innen ermöglicht Art. 17 Abs. 2 Dublin III-Verordnung. Denn bei dessen Auslegung und Anwendung muss Art. 24 GrCh EU berücksichtigt werden (EuGH, Urt. v. 6. Juni 2013, Rs. C-648/11, Rn. 57). Gemäß Art. 24 Abs. 1 GrCh EU haben Kinder Anspruch auf Schutz und Fürsorge. Der zweite Absatz verpflichtet die Staaten darauf, das Kindeswohl bei Maßnahmen vorrangig zu berücksichtigen. Als Rechtserkenntnisquelle ist noch die UN-Kinderrechtskonvention relevant. Laut Art. 22 Abs. 1 dieser Konvention müssen die Vertragsstaaten den Schutzsuchenden angemessenen Schutz und humanitäre Hilfe bei der Wahrnehmung ihrer Rechte zukommen lassen. Zu diesem Zweck müssen die Vertragsstaaten auch zusammenarbeiten, vgl. Art. 22 Abs. 2 UN-Kinderrechtskonvention. Art. 22 UN-Kinderrechtskonvention streitet ebenso wie Art. 24 GrCh EU dafür, im Rahmen des Art. 17 Abs. 2 Dublin III-Verordnung eine Umverteilung der Minderjährigen nach Deutschland zu ermöglichen.

Ausblick auf die Neugestaltung des Asylzuständigkeitssystems

Zwar können die unbegleiteten minderjährigen Antragsteller*innen mittels Art. 17 Abs. 2 Dublin III-Verordnung umgesiedelt werden. Die Dublin III-Verordnung eignet sich dennoch nicht für Umsiedlungsprojekte. Es fehlt an einem vernünftigen Regelungsrahmen, der die Rechte und Pflichten derjenigen benennt, die an einer Umsiedlung beteiligt sind. Daher erfolgt die Zusammenarbeit der beteiligten Behörden zurzeit nur aufgrund temporärer Vereinbarungen und sog. Standard Operating Procedures, die den Mitgliedstaaten vollständige Flexibilität, den Antragsteller*innen jedoch kaum Mitwirkungsrechte gewähren.

Wie auch immer die Reform des Dublin-Systems aussieht, sie sollte entweder einen umfassenden Verteilungsmechanismus oder zumindest einen spezifischen Regelungsrahmen beinhalten. Auch sollten die Antragsteller*innen in dem Umsiedlungsverfahren mit eigenen Rechten und Pflichten ausgestattet werden. Ihre Teilnahme kann der Effektivität der Umsiedlung dienen (so auch das Europäische Parlament, S. 100 f.). Denn Staaten allein treffen nicht immer die für die Antragsteller*innen besten Verteilungsentscheidungen.

Zitiervorschlag: Thomas Matthies, Zur Umsiedlung von unbegleiteten minderjährigen Antragsteller*innen, JuWissBlog Nr. 115/2020 v. 23.09.2020, https://www.juwiss.de/115-2020/

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Wissenschaftliche*r Mitarbeiter*in, E 13, 50 %, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Informations- und Kommunikationsrecht, Gesundheitsrecht und Rechtstheorie (Prof. Dr. Marion Albers), Universität Hamburg, Bewerbungsfrist: 19.10.2020

Wissenschaftliche*r Mitarbeiter*in, E 13, 50 %, Deutsches Institut für Menschenrechte, Berlin,  Bewerbungsfrist: 26.10.2020

Calls for Papers

The Global Summit, International Forum on the Future of Constitutionalism, vom 12.01.21 bis 16.01.21, online, Deadline für das Einreichen eines Vorschlags für ein Paper oder eines Panel-Konzepts: 01.10.20 (8 p.m. local time in Ottawa, Canada)

Das finden wir spannend

EU-Asylreform

Trump nominiert Barrett als Ginsburg-Nachfolge

Schäuble schlägt Bürgerräte vor

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Werkstattbericht zur nächsten digitalen Mini-Konferenz des deutschen Chapters der International Society of Public Law (ICON-S)

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Wer sind wir und was machen wir bei ICON-S?

Die International Society of Public Law (ICON-S) ist in Deutschland nicht so bekannt wie anderswo. Verknüpft mit der renommierten englischsprachigen Fachzeitschrift International Journal of Constitutional Law (ICON) wurde sie 2014 von Joseph Weiler (New York University, zuvor European University Institute) und Sabino Cassese (Universität Pisa, früher Verfassungsrichter des italienischen Verfassungsgerichts) in Florenz gegründet. Seitdem finden regelmäßige Jahrestagungen statt; die nächste ist für Wroclaw (Polen) für den Sommer 2021 geplant, danach geht es nach Neuseeland.

ICON-S als Brücke zwischen disziplinären Zugriffen und Statusgruppen

In der Society gibt es inzwischen einige regionale sog. Chapters und unser deutsches Chapter ist eines davon. Noch sind wir relativ klein, das möchten wir aber gern – zusammen mit Euch – ändern. ICON-S Deutschland versteht sich, wie die Society insgesamt, vor allem als ein Brückenprojekt: Die erste wichtige Brücke verläuft innerhalb der Disziplinen und zwischen ihnen. Wir glauben, dass es wichtig ist, dass wissenschaftliche Kommunikation nicht nur in spezialisierten Blasen stattfindet und sich Recht am besten verstehen lässt, wenn man sich mit unterschiedlichen Zugriffen darauf beschäftigt. Verfassungsrechtler/innen sollten mit Verwaltungsrechtler/innen ebenso wie mit Rechtsphilosoph/innen, Politikwissenschaftler/innen, Historiker/innen und Soziolog/innen sprechen. Und möglichst nicht nur mit jenen in Deutschland, sondern darüber hinaus. Das gilt auch für das deutsche Chapter – und schlägt sich zum Beispiel in der Sprachwahl nieder. Auf unserer ersten Konferenz im März 2019 in Berlin sprachen die Teilnehmer/innen und Vortragenden Deutsch oder Englisch. Brücken wollen wir auch zwischen Hierarchieebenen bauen: Anders als in anderen wissenschaftlichen Gesellschaften in Deutschland sind ordentliche Professorinnen und Professoren mit Habilitation – z.B. Christoph Möllers, Armin von Bogdandy oder Anne von Aaken – ebenso wie viele jüngere Kolleginnen und Kollegen noch ohne Habilitation bei uns mit an Bord, wie etwa ich selbst oder Tim Wihl. Und wie bei der globalen Society gilt auch im deutschen Chapter als Grundregel Parität zwischen Männern und Frauen, in Deutschland leider noch immer eine Seltenheit.

Gelegenheit zum Hereinschnuppern und Mitglied werden

In diesem Sinne freuen wir uns sehr über neue Mitglieder oder einfach Interessent/innen, die sich mit uns treffen und das deutsche Chapter weiter gemeinsam aufbauen wollen.

Gelegenheiten zum Hereinschnuppern gibt es bei uns gleich in der nächsten Woche: Am 8.10. 2020 Uhr findet um 8:30 Uhr eine kleine virtuelle Runde statt, bei der Anika Klafki, Michaela Hailbronner und Christoph Möllers zum Thema Publizieren ein paar Fragen ansprechen wie etwa: Wie publiziert man seine Doktorarbeit? Wie ist das eigentlich mit Blogs? Wer wählt die Beiträge für wissenschaftlichen Zeitschriften aus und was ist Peer Review und wie gehe ich damit um? Wo und wie veröffentliche ich ein englisches Buch?

Am 9.10.2020 treffen wir uns dann noch einmal für eine weitere virtuelle Runde zum Thema „Nach Corona die Revolution?“ um 15 Uhr, in der Tim Wihl mit Anuscheh Farahat (FAU Erlangen), Alexander Graser (Uni Regensburg), Silke Laskowski (Uni Kassel) und Mehrdad Payandeh (Bucerius Law School) die Frage aufnimmt, ob die Coronakrise uns ein Anstoß für fundamentale Gerechtigkeitsfragen in der Gesellschaft sein kann.

Wir freuen uns über alle, die zuhören und mitdiskutieren wollen, und bitten um kurze formlose Registrierung unter iconsdeutschland@gmail.com (der Link zu Zoom kommt dann mit der Antwort).

Daneben bieten wir am 8. und 9.10. einigen durch einen Call for Papers ausgewählten Doktorandinnen und Postdoktorand/innen intern ein Forum, um neue Texte wie Aufsätze oder Buchkapitel mit Mitgliedern unseres Advisory Boards zu diskutieren und Feedback für die weitere Arbeit zu erhalten. Dieser Works-in-Progress Workshop ist allerdings, anders als unsere anderen zwei Veranstaltungen, nicht öffentlich, um eine freiere Diskussion zu ermöglichen. Ein nächstes Treffen in Person soll – hoffentlich – im Herbst 2021 in Gießen stattfinden.

Weitere Informationen zu uns, unseren Aktivitäten und zur Mitgliedschaft gibt es auf unserer Homepage – und Fragen beantworten wir natürlich gerne per Email.

Michaela Hailbronner für das deutsche ICON-S Team

Der aktuelle Prozess des Verfassungswandels in Chile

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von AUGUSTO WIEGAND

Chile erlebt zurzeit einen vermutlich tiefgreifenden konstitutionellen Wandel. Der nachfolgende Beitrag erinnert in einem kurzen Rückblick an die historischen Wurzeln der geltenden Verfassung und zeichnet dann die aktuellen Entwicklungen seit vergangenem Oktober nach.

 

Der Ursprung der geltenden Verfassung

Um die aktuellen Verfassungsdiskussionen in Chile zu verstehen, ist es zunächst erforderlich, sich vor Augen zu führen, dass die geltende chilenische Verfassung [CV] einen undemokratischen Ursprung hat. Ein wichtiges Datum für ihre Entstehung ist der Sturz des damaligen sozialistischen Präsidenten Salvador Allende durch einen militärischen Staatsstreich am 11. September 1973. Direkt im Anschluss begann die Militärjunta durch gesetzesvertretende Verordnungen zu regieren, wodurch die damalige konstitutionelle Ordnung zumindest de facto unterbrochen wurde. Einige Wochen später berief die Diktatur eine Studienkommission ein, um einen Verfassungsentwurf vorzubereiten. Nach vierjähriger Ausarbeitungszeit legte die Studienkommission ihren Vorschlag der Militärjunta vor. Nach nochmaliger Überarbeitung durch ein anderes Komitee überprüfte die Junta den Entwurf. Über das Resultat wurde 1980 im Rahmen eines manipulierten Plebiszits abgestimmt. Die Übergangsregelungen [ÜGR] der neuen CV ordneten an, dass die Militärjunta die gesetzes- und verfassungsgebende Gewalt zwischen 1981 und 1989 übernehmen sollte. Ferner sollte der Armeechef, Augusto Pinochet, als Präsident der Exekutive vorstehen. Die ÜGR sahen auch vor, dass 1988 eine weitere Volksabstimmung stattfinden sollte, um das Volk zu befragen, ob eine von der Junta ernannte Person für weitere acht Jahre als Präsident amtieren könnte, diesmal aber unter Begleitung eines gewählten Parlaments. 1988 unterlag Pinochet im Plebiszit. Im darauffolgenden Jahr wurde der Kandidat der Oppositionsparteien in freien Wahlen als Präsident gewählt.

Oktober 2019

In den Jahren nach Pinochets Untergang entwickelten sich allmählich demokratische Verhältnisse. Zahlreiche Artikel der CV wurden geändert, aber dennoch steht sie häufig im Zentrum scharfer Kritik. Die CV enthält bis dato Bestimmungen, die an ihre autoritäre Herkunft erinnern. Selbstverständlich braucht man eine qualifizierte Mehrheit für eine Verfassungsänderung. Tatsächlich bedarf es dazu gemäß Art. 127 Abs. 2 CV in jeder entsprechenden Kammer der Zustimmung von entweder zwei Dritteln (bei Kapiteln I, III, VIII, XI, XII, XV) oder drei Fünfteln (bei den restlichen neun Kapiteln) der amtierenden Abgeordneten und Senatoren [AAS]. Zusätzlich sieht die CV vor, dass zahlreiche gesetzliche Materien qualifizierte Mehrheiten verlangen. So unterscheidet Art. 66 CV zwischen drei Varianten: Erstens, die „Gesetze zur Auslegung der Verfassung“ (drei Fünftel der AAS); zweitens, die „verfassungsmäßigen organischen Gesetze“ [VOG] (vier Siebtel der AAS); drittens, die „qualifizierten Beschlussfähigkeits-Gesetze“ (absolute Mehrheit der AAS). Für die Gestaltung des Staates sind die VOG besonders entscheidend, weil sie Bereiche wie die öffentliche Verwaltung (Art. 38 Abs. 1), das Wahlsystem (Art. 18 Abs. 1) oder das Schulwesen (Art. 19 n° 11 Abs. 5) betreffen. Die Militärjunta bemühte sich, all diese Materien vor 1989 per VOG zu regeln. Wie oben beschrieben kann bis heute eine Minderheit Reformen bezüglich dieser Bereiche blockieren.

Dennoch erzielte das Land während der letzten 30 Jahre beträchtliche Fortschritte. Im Vergleich zu anderen südamerikanischen Ländern weist Chile gute Indikatoren auf. Gerade deswegen wunderten sich viele über folgendes Geschehen: Am 11. Oktober 2019 protestierten dutzende Jugendliche in einigen U-Bahnstationen als Reaktion auf eine Preiserhöhung der U-Bahntickets in der Hauptstadt. Die Proteste eskalierten. Seitdem kommt es fast täglich im ganzen Land zu Massenprotesten. Die Forderungen nach Reformen sind vielfältig. Andererseits gibt es bei den Protesten auch viel Gewalt auf den Straßen (z.B. Sachbeschädigungen und Plünderungen). Die Regierung wird stark kritisiert, teils weil sie unfähig ist, die öffentliche Ordnung wiederherzustellen, teils weil die Polizei im Umgang mit der Situation gravierende Verstöße gegen die Menschenrechte begeht.

Das „Abkommen für sozialen Frieden und eine neue Verfassung“

Bereits einen Monat nach Beginn der Proteste, am 15. November 2019, verkündete der Senatspräsident einen epochalen politischen Schritt: das „Abkommen für sozialen Frieden und eine neue Verfassung“ [AFV]. Er erreichte dafür, was bis vor einiger Zeit undenkbar war: Alle parlamentarischen Kräfte gaben ihre Zustimmung. Um die Krise zu bewältigen, haben die rechtskonservativen Parteien die Möglichkeit eröffnet, eine neue Verfassung zu schreiben. Tatsächlich ist dies bereits seit langem eine Forderung der anderen Parteien gewesen. Im Mittelpunkt des AFV stehen vor allem die Abstimmungsmöglichkeiten des Volkes über zwei Fragen. Einerseits die Entscheidung, ob überhaupt eine neue Verfassung entworfen werden soll („Zustimmung“ oder „Ablehnung“); und andererseits die Wahl, ob die neue Verfassung entweder von einem „Verfassungskonvent“ (nur direkt gewählte MitgliederInnen) oder von einer „gemischten Verfassungskonvention“ (aktuelle MitgliederInnen des Parlaments und direkt gewählte KandidatInnen) entworfen werden soll. Wird für eine „Zustimmung“ gestimmt, wird das Volk zu einem späteren Zeitpunkt die Mitglieder des Konvents nach einem der genannten Modelle wählen. Der Konvent hat in diesem Fall eine einjährige Frist – verlängerbar um drei Monate -, um die neue Verfassung zu entwerfen. Jeder Artikel muss von mindestens zwei Dritteln der Mitglieder des Konvents genehmigt werden. Anschließend muss der gesamte Verfassungsentwurf zur Volksabstimmung vorgelegt werden. Um die AFV-Anforderungen rechtlich zu erfüllen, wurde die CV im Dezember 2019 reformiert. Die Verfassungsänderung fügte in der CV unter dem Untertitel „Zum Verfahren der Ausarbeitung einer neuen Verfassung der Republik“ einen aus 14 neuen Artikeln bestehenden Teil im Kapitel XV ein. Nachträglich (im März 2020) verabschiedete das Parlament auch Wahlrechtsgrundsätze, um die Geschlechterparität der regierenden Mitglieder des Konvents zu sichern (ÜGR 31º).

Referendum trotz Pandemie

Die Viruserkrankung COVID-19 veränderte die politische Agenda. Der Großteil der Bevölkerung war seit März von strikten Quarantänemaßnahmen betroffen. Die Volksabstimmung, die gemäß des AFV im April 2020 stattfinden sollte, wurde deshalb durch eine zusätzliche Verfassungsreform auf den 25. Oktober 2020 verschoben (ÜGR 33º). Obwohl sich die Lage aktuell etwas gebessert hat, ist die Zahl der Infizierten immer noch hoch. Ob das Referendum daher wie geplant im Oktober durchgeführt werden kann, wird von vielen derzeit angezweifelt. Eine erneute Verschiebung schloss die Regierung allerdings aus. Daher wurden vor Kurzem die Wahlbehörden beauftragt die im Rahmen der Pandemie nötigen sanitären Bedingungen herzustellen, um die Wahlen durchführen zu können (ÜGR 41º). Auf diese Weise wird versucht eine möglichst hohe und sanitär sichere Wahlbeteiligung im Plebiszit zu erreichen.

Diese Entscheidung ist angemessen, da es in naher Zukunft keine perfekten Bedingungen geben wird, um die Volksabstimmung vorzunehmen. Gewiss ist auch, dass die aktuelle Lage ohne Veränderung Unsicherheiten in verschiedenen Bereichen mit sich bringt. Ferner ist es vernünftig zu glauben, dass, wie ähnliche historische Prozesse bereits gezeigt haben, Chile die aktuelle Krise überwinden könnte, wenn es eine neue konstitutionelle Einigung gibt. Die alternative Wahlmöglichkeit der „Ablehnung“ zeigt aber ebenfalls die Zweckdienlichkeit, die Abstimmung so bald wie möglich vorzunehmen. Denn selbst wenn die „Ablehnung“ Erfolg hat, würde das zumindest bedeuten, dass die lange Diskussion zu einer neuen Verfassung ein Ende finden kann.

Zitiervorschlag: Augusto Wiegand, Der aktuelle Prozess des Verfassungswandels in Chile, JuWissBlog Nr. 117/2020 v. 01.10.2020, https://www.juwiss.de/117-2020/

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Universitätsassistent*in (75%), Institut für Europarecht, Internationales Recht und Rechtsvergleichung, Universität Wien. Bewerbungsfrist: 20.10.2020.

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Zwei Wiss. Mitarbeiter*innen (je 50%), Institut für Grundlagen des Rechts, Abteilung für Staatstheorie, Politische Wissenschaften u. Vergleichendes Staatsrecht (Prof. Dr. Florian Meinel), Georg-August-Universität Göttingen. Bewerbungsfrist: 01.11.2020

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„Jurisdiktion: Wer spricht internationales Recht?“ für die Tagung des Arbeitskreis junger Völkerrechtswissenschaftler*innen (AjV) und Deutsche Gesellschaft für Internationales Recht (DGIR). Deadline für das Einreichen eines Abstracts: 08.01.2021.

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EU-Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn – Zur Anwendbarkeit der EU-Grundrechtecharta über das WTO-Recht

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Von Felix Boor

Die große Kammer des Gerichtshofs der Europäischen Union hat am 06. Oktober 2020 (Rs. C-66/18) in einem Vertragsverletzungsverfahren gemäß Art. 258 AEUV gegen Ungarn entschieden, dass das ungarische Hochschulgesetz, das faktisch die weitere Lehrtätigkeit der von George Soros nach New Yorker Recht gegründete Central European University (CEU) in Ungarn untersagte, nicht mit Europarecht vereinbar ist.*

Das Urteil ist zweigeteilt: Zum einen wurde die Regelung behandelt, nach der für alle ausländischen Hochschulen, die keine Lehrtätigkeit in ihrem Heimatstaat ausüben, die Lehrtätigkeit in Ungarn untersagt wurde. Hierin sahen die europäischen Richter richtigerweise einen Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit des Art. 49 AEUV sowie gegen Art. 16 der Dienstleistungsrichtlinie und Art. 13 S. 2, 14 Abs. 3 und 16 Grundrechtecharta.

Dieser Beitrag will sich aber der zweiten behandelten Regelung des Hochschulgesetzes widmen, die für die Lehrtätigkeit für ausländische Hochschulen zwingend einen völkerrechtlichen Vertrag zwischen Heimatstaat und Ungarn erforderlich machte. Hochschulen aus der EWR waren jedoch ausdrücklich von dieser Regelung ausgenommen Der EuGH sah hierin, da ein Rückgriff auf die Grundfreiheiten damit ausgeschlossen war, einen Verstoß gegen den Inländergleichbehandlungsgrundsatz des Art. XVII GATS sowie gegen die durch Art. 13 S. 2, 14 Abs. 3 und 16 Grundrechtecharta geschützte akademische Freiheit.

Argumentation des EuGH

Auch wenn die Entscheidung im Ergebnis begrüßenswert ist, wirft die Argumentation des EuGH, zumindest was den Lösungsweg über das WTO-Recht betrifft, gerade im Zusammenhang mit der Anwendbarkeit der Grundrechtecharta auf völkerrechtliche Verträge erneut rechtsdogmatische Fragen auf, die nur schwer auszuräumen sind.

Die von der Union im Rahmen ihrer Zuständigkeiten geschlossenen völkerrechtliche Übereinkommen wie das WTO-Recht binden gem. Art. 216  Abs. 2 AEUV die Organe und die Mitgliedstaaten als integrierende Bestandteile des EU-Primärrecht (siehe dazu C-181/73 – Haegemann, Rn. 2/6; C-12/86 – Demirel, Rn. 7; C-240/09 – Lesoochranáske zosskupenie, Rn. 30.) Die Kommission als Hüterin des EU-Rechts hat in der Vergangenheit auch immer wieder Verstöße gegen die von den Organen abgeschlossenen völkerrechtlichen Verträge gerügt und ist im Rahmen von Vertragsverletzungsverfahrens zumindest gegen Verletzungen durch EU-Mitgliedstaaten vorgegangen, wenn auch noch nicht wegen WTO-Rechtsverstößen (C-61/94 – Kommission gegen Deutschland; C-13/00 – Kommission gegen Irland; C-239/03 – Kommission gegen Frankreich; C-173/05 – Kommission gegen Italien). Diese Kompetenz der Kommission folgt aber letztlich zwingend aus der Tatsache, dass das Fehlverhalten eines Mitgliedstaates die völkerrechtliche Verantwortlichkeit der gesamten Union auslösen könnte (Urteil, Rn. 81 ff.). Die Generalanwältin Kokott erinnert in diesem Zusammenhang daran, dass beispielsweise als Reaktion auf die WTO-widrigen Airbus-Subventionen von Seiten Deutschlands, Frankreichs und des Vereinigten Königreichs US-amerikanische Strafzölle für den italienischen Parmesankäse erhoben worden sind. Es sei Ausdruck der Pflicht der loyalen Zusammenarbeit aus Art. 4 Abs. 3 EUV, dass jeder Mitgliedstaat verpflichtet sei, solche Schäden in anderen Mitgliedstaaten zu vermeiden (Schlussantrag, Rn. 54).

Ungarn hatte in seinen Zugeständnissen innerhalb des Inländergleichbehandlungsgrundsatz des Art. XVII GATS zwar die Tätigkeit von Bildungseinrichtungen von einer behördlichen Genehmigung abhängig gemacht, aber keine weiteren materiellen Beschränkungen für eine Genehmigungsverweigerung bei Vertragsschluss genannt. Die Verweigerung des Marktzugangs mit Verweis auf eine weitere Voraussetzung war damit ein offensichtlicher Verstoß gegen diese Regelung. Der EuGH geht nun noch weiter und wendet auf die Verpflichtungen des GATS als Bestandteil des Primärrechts auch die Grundrechtecharta gemäß deren Art. 51 an (Urteil, Rn. 208), sodass Ungarn auch aufgrund einer Verletzung der akademischen Freiheit gem. Art. 13 S. 2, 14 Abs. 2 und 16 verurteilt werden konnte (Urteil, Rn. 222 ff.).

Dogmatische Zweifel

Diese Entscheidung fügt sich sicherlich auf den ersten Blick in die oben genannte ständige Rechtsprechung des Gerichtshofs nahtlos ein. Dennoch muss darauf hingewiesen werden, dass gerade der Sprung in die Grundrechtecharta den Inländergleichbehandlungsgrundsatz des GATS in einem Maße überdehnt, den das WTO-Recht gerade nicht vorsieht. Vielmehr ist es ja gerade der beispielsweise durch Art. V GATS abgesicherte Vorteil einer Wirtschaftsunion, dass die Privilegien des EU-Rechts eben grundsätzlich nicht auf Angehörige von Drittstaaten übertragen werden müssen. Daher war eine Anwendung der Meistbegünstigungsklausel des Art. II Abs. 1 GATS mit diesem Ziel generell ausgeschlossen und der Inländergleichbehandlungsgrundsatz deshalb das Mittel der Wahl, weil nach den Grundsätzen der Inländerdiskriminierung eben nicht in das EU-Recht gesprungen werden kann.

Die Anwendung der EU-Grundrechtecharta ist daher ein zumindest nicht selbstverständliches Ergebnis, das ein erhebliches Konfliktpotential in sich birgt. Denn zu den von den EU-Organen abgeschlossenen Übereinkommen gehören eben nicht nur das WTO-Übereinkommen, sondern eine Vielzahl von handelspolitischen Verträgen, einschließlich der in den letzten Jahren oft sehr umfassend verhandelten Freihandels- und Assoziierungsabkommen. Wenn beispielsweise aufgrund eines solchen Abkommens ein Aufenthaltstitel beispielsweise eines Japaners gewährt wird, ist schon fraglich, inwieweit die EU-Grundrechtecharta auf ihn Anwendung findet und wann der Grundrechtekatalog des entsprechenden Mitgliedstaates dann an ihre Stelle rückt. Für Deutschland wäre sicherlich das Assoziierungsabkommen mit der Türkei ein potentiell genauso konfliktträchtiges Übereinkommen. Zwar werden sich die Grundrechtskataloge nur selten widersprechen, aber sie sind eben auch nicht deckungsgleich und werden eben auch vom EuGH und den mitgliedstaatlichen Verfassungsgerichten teilweise unterschiedlich ausgelegt.

Das Problem wird auch nicht gerade durch den Ansatz des EuGH entschärft, die Grundrechtscharta auf den eigentlich zur mitgliedstaatlichen Binnenkompetenz gehörenden Bildungsbereich anzuwenden, der gemäß Art. 6 lit. e) AEUV nur ergänzend durch die Union einer teilweisen Harmonisierung unterzogen werden kann (vgl. Urteil, Rn. 74).

Zweierlei Maß

Ein weiteres Problem wird erst deutlich, wenn man den Fall umdreht und den WTO-Rechtsverstoß hypothetisch durch die EU-Organe vollführen lässt. Während WTO-Rechtsverstöße der Mitgliedstaaten im vollen Umfang durch den EuGH überprüft werden können, sei die gerichtliche Kontrolle von Handlungen der EU-Organe über eine Nichtigkeitsklage gem. Art. 263 AEUV nicht zulässig. Es drängt sich erneut die Frage auf, ob dieser zweigeteilte Maßstab auf Dauer Bestand haben kann. Bereits im Verfahren gegen die deutsche Milchquote hatte der Generalanwalt Tesauro für eine Aufgabe dieser Doktrin plädiert (Rn. 23). Hintergrund dieser Differenzierung ist die außenpolitische Handlungsfähigkeit der EU. Diese solle nicht faktisch durch eine vorgreifende gerichtliche Entscheidung unnötig belastet werden, denn Drittstaaten könnten ja bei Kenntnis eines Urteils im Rahmen einer Nichtigkeitsklage möglicherweise abgeneigt sein, ihrerseits dann aus ihrer Sicht unnötige wirtschaftspolitische Zugeständnisse an die EU zu machen.  Auf der anderen Seite werde die Handlungsfähigkeit der EU sogar dadurch gestärkt, dass man durch ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Mitgliedstaaten den Drittstaaten signalisieren könne, dass die verhandelnde Kommission durchaus die Macht habe, einen internen WTO-Rechtsverstoß abzustellen. Eine potentielle Verletzung der EU-Grundrechtecharta wäre also bei einer potentiellen Verletzung durch die EU-Organe durch diese Form der richterlichen Zurückhaltung nicht zum Tragen gekommen, obwohl die Charta gemäß ihrem Art. 51 ja vornehmlich doch gerade auch für das Handeln der EU-Organe geschaffen worden ist.

Man muss sich fragen, ob nicht das über Jahrzehnte vor sich her getragene Dogma der außenpolitischen Handlungsfreiheit der Kommission angesichts der weitgehend durch WTO-Recht und anderen Handelsabkommen völkerrechtlich fest vereinbarten Regeln als geradezu anachronistisch und möglicherweise sogar aus Sicht der Handelspartner als unredlich erscheinen kann.  In diesem Zusammenhang muss man sich stets vor Augen halten, dass es sich hier um verbindliche Vereinbarungen des Primärrechts handelt, zu denen sich die EU mit ihrem Vertragsbeitritt verpflichtet hat. Es drängt sich dann doch die Frage auf, ob es in solchen Fällen wirklich notwendig ist, bei Verhandlungen von diesem aktuellen Mindeststandard der außenwirtschaftlichen Handelsbeziehungen, wie sie das WTO-System darstellt, noch abgehen zu können.

Kompetenz des Dispute Settlement Body

Und schließlich muss darauf hingewiesen werden, dass die Letztentscheidungskompetenz für GATS-Rechtsverstöße weiterhin bei dem Dispute Settlement Body der WTO liegt, wenn auch dieser gerade durch die Blockadepolitik der Trump-Administration an seinem Funktionieren gehindert wird. Der EuGH hat sich nicht dazu geäußert, inwiefern sich die Existenz des WTO-Streitbeilegungsmechanismus auf seine eigene Prüfungskompetenz auswirkt. Dies ist erstaunlich, da die Generalanwältin ausdrücklich darauf hingewiesen und für eine Beschränkung der Prüfungskompetenz auf offensichtliche WTO-Rechtsverletzungen plädiert hatte (Schlussantrag, Rn. 87 ff.). Sie hat sich in diesem Zusammenhang auch der Argumentation Ungarns angeschlossen, dass nämlich im vorliegenden Falle, bei der durch ein völkerrechtliches Abkommen sensible Binnenkompetenzbereiche der Mitgliedstaaten wie die Bildung betroffen seien, bei den Mitgliedstaaten eine ausreichend große Gestaltungsfreiheit verbleiben solle und daher auch der Prüfungsmaßstab des EuGH zurückgefahren werden müsse (Schlussantrag, Rn. 89). Es wird eine wesentliche Aufgabe der kommenden Rechtsprechung des Gerichtshofs sein, diese Widersprüche dogmatisch aufzubereiten.

 

* Der Autor dankt Kristina Hadzhieva für ihre sehr hilfreiche Unterstützung.

Zitiervorschlag: Boor, Felix, EU-Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn – Zur Anwendbarkeit der EU-Grundrechtecharta über das WTO-Recht, JuWissBlog Nr. 118/2020 v. 14.10.2020, https://www.juwiss.de/118-2020/

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CETA vor dem Bundesverfassungsgericht: Neues zur Integrationsverantwortung?

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Ein Bericht zur mündlichen Verhandlung von Robert Pracht

CETA vor dem Bundesverfassungsgericht: Man könnte erwarten, dass in der mündlichen Verhandlung am 13. Oktober 2020 – im Anschluss an die mittels einstweiliger Anordnung ergangenen Urteile auf den Tag genau vier Jahre zuvor – der Inhalt des kanadisch-europäischen Handelsabkommens intensiv auf das Vorliegen eines ultra-vires-Akts respektive einer Verfassungsidentitätsverletzung hin untersucht worden wäre. Doch in Karlsruhe standen am Dienstag andere spannende verfassungsrechtliche Fragen im Raum: die Zulässigkeit eines Insichprozesses im Organstreitverfahren sowie die genauen Anforderungen an die Integrationsverantwortung des Deutschen Bundestages.

Äußere Umstände: Verhandlung unter Corona-Bedingungen

Vieles war neu und etwas ungewohnt auf dem Schlossplatz in Karlsruhe bei der mündlichen Verhandlung zum CETA-Freihandelsabkommen am vergangenen Dienstag. Es handelte sich um die erste mündliche Verhandlung, die das Bundesverfassungsgericht in Zeiten der Pandemie durchführte, was auch die äußeren Abläufe beeinflusste: Die Richterinnen und Richter betraten den Plenarsaal mit Mund-Nasen-Bedeckungen (während der Verhandlung waren zwischen ihnen Plexiglasscheiben aufgebaut); im Saal versammelten sich die Prozessbeteiligten über dessen ganze Breite unter Wahrung des Mindestabstandes; nur neun Personen anstelle der sonst dutzenden repräsentierten die Öffentlichkeit und alle 90 Minuten kam es zu einer Verhandlungsunterbrechung, um mithilfe der Klimaanlage für frischen Sauerstoff zu sorgen. Der souveränen Verhandlungsleitung der neuen Senatsvorsitzenden und Vizepräsidentin Doris König war es zu verdanken, dass nur die äußere Form etwas unüblich war, sich inhaltlich aber die mündliche Verhandlung wie auch sonst auf hohem juristischen Niveau bewegte.

Streitgegenstand und offene verfassungsrechtliche Fragen

In der Sache (Az. 2 BvE 4/16) ging es mittelbar um das CETA-Freihandelsabkommen zwischen der Europäischen Union und Kanada. Allerdings wurde nur über einen Teilbereich der staats- und europarechtlichen Auseinandersetzung und keinesfalls eingehend über den materiellen Inhalt des Abkommens diskutiert, der von zigtausenden Beschwerdeführern und auch von der Antragstellerin in einem zweiten Organstreit als ultra-vires und verfassungsidentitätsverletzende Handlung angegriffen wurde. Konkret war in dem am Dienstag verhandelten Organstreit allein fraglich (worauf das Bundesverfassungsgericht in einer gesonderten Pressemitteilung im Vorfeld der Verhandlung auch noch einmal hinwies), ob der Deutsche Bundestag durch seine Stellungnahme vom 22.09.2016 (BT-Drs. 18/9663) bezüglich der vorläufigen Anwendung des in die Unionszuständigkeit fallenden Teils von CETA (vgl. Art. 218 Abs. 5 AEUV) seiner Integrationsverantwortung gerecht wurde.

Dies verneinte die Antragstellerin (Fraktion Die LINKE) und griff diese Stellungnahme als aktives Tun, in welchem zugleich ein „doppeltes Unterlassen“ liegen sollte, im Organstreitverfahren an. Notwendig für die vorläufige Anwendung internationaler Verträge sei ein Mandatsgesetz; eine bloße Stellungnahme genüge nicht für eine aktive und intensive Wahrnehmung der Integrationsverantwortung. Außerdem hätte der Deutsche Bundestag CETA durch eine Begleitgesetzgebung mit dem Ziel der Minimierung der Demokratiedefizite flankieren müssen.

In seinem einführenden Sachbericht führte der Berichterstatter Peter Michael Huber die zahlreichen Stellen parlamentarischer Auseinandersetzung mit CETA an und markierte die aus seiner Sicht besonders erörterungswürdigen Probleme, die das Verfahren aufwerfe: Zum einen solle noch einmal über die Zulässigkeit eines Insichprozesses im Organstreitverfahren nachgedacht und zum anderen müsse herausgearbeitet werden, was die Antragstellerin genau begehrt und auf welche Weise der Deutsche Bundestag seine Integrationsverantwortung wahrnehmen kann respektive wahrzunehmen hat.

Zulässigkeit eines Insichprozesses

Unklar war zu Beginn der Verhandlung, ob das Bundesverfassungsgericht sich noch einmal kritisch selbst dahingehend prüfen wollte, ob die prinzipielle, in der Lissabon-Entscheidung begründete Zulässigkeit eines Insichprozesses richtig war. Dieser beschreibt eine Situation, in der eine Fraktion Rechte des Bundestages gegen diesen selbst geltend macht. Der weitere Verhandlungsverlauf zeigte, dass die Richterinnen und Richter indes wohl nur hinsichtlich des konkreten Verfahrens und nicht allgemein an der Zulässigkeit des Insichprozesses Zweifel hegten. Die neue Richterin Astrid Wallrabenstein wollte wissen, ob die Opposition bei der Rüge einer Pflichtverletzung des Deutschen Bundestages gegen sich selbst jedes Handeln des Bundestages angreifen könne oder dies nur in spezifischen Konstellationen gelte. Auch Christine Langenfeld sprang dem bei und fragte die Antragstellerin kritisch, ob es sich hier in Wahrheit nicht lediglich um die Fortsetzung einer politischen Auseinandersetzung im Gewande des Organstreits handeln würde. Diese Frage geht vermutlich auch darauf zurück, dass die Fraktionsvorsitzende der Antragstellerin in ihrer einführenden Stellungnahme davon sprach, dass der Antrag „Teil des weltweiten Widerstandes gegen eine solche Art von Freihandelsabkommen“ sei.

In der Tat muss sich der Zweite Senat bei der Entscheidungsfindung fragen, ob in diesem Fall die Zulässigkeit des Organstreitverfahrens bejaht werden kann. Schon die grundsätzliche Zulässigkeit des Insichprozesses ist umstritten; hierfür spricht aber grundsätzlich überzeugend der effektive Minderheitenschutz, der verlangt, dass die Rechte des Bundestages gegen die typischerweise die Bundesregierung tragende Parlamentsmehrheit auch von einer Minderheitsfraktion geltend gemacht werden können. Auf der anderen Seite darf es aber auch nicht zu einer allgemeinen Rechtmäßigkeitskontrolle des Handelns des Bundestages im Organstreitverfahren kommen: So wies die Antragsgegnerin zutreffend darauf hin, dass der kontradiktorische Organstreit nicht zu einem objektiven Verfassungskontrollverfahren anlässlich einer möglichen abstrakten ultra-vires-Konstellation verkommen dürfe. Schließlich meinte auch die Senatsvorsitzende, dass die Argumentation der Antragstellerin auf dem Vorliegen einer ultra-vires- respektive verfassungsidentitätsverletzenden Handlung beruhe, der Deutsche Bundestag in seiner Mehrheit hingegen davon ausging, dass der Vertrag vom Grundgesetz gedeckt sei – könne es Aufgabe des Organstreitverfahrens sein, die Mehrheit zu einer Rechtskontrolle zu veranlassen? Eine Frage, die wohl zu verneinen ist.

Anforderungen an die Integrationsverantwortung des Deutschen Bundestages

Auch um den zweiten – mit dem ersten Komplex freilich verbundenen – Problemkreis, was vom Deutschen Bundestag für die Wahrnehmung seiner Integrationsverantwortung genau verlangt werden kann, wurde intensiv gerungen. Abgeordnete legten dar, wie ausführlich sich der Deutsche Bundestag mit CETA und allgemein mit seiner Integrationsverantwortung auseinandergesetzt hatte und wünschten sich, auch einmal ein „Lob“ aus Karlsruhe zu erhalten. Erörtert wurde, was genau in dem von der Antragstellerin begehrten Mandatsgesetz hätte stehen sollen und wie es sich vom noch folgenden Ratifikationsgesetz unterscheide.

Außerdem wurde kontrovers diskutiert, welche Anforderungen an den Deutschen Bundestag gestellt werden sollen – insbesondere die Antragsgegnerin wandte sich dagegen, dass es zu einer „Verjustizlichung“ politischer Entscheidungsvorgänge und damit der Erwartungen an die Erste Gewalt käme, sodass die justizähnliche Mitwirkung als Komparativ und die urteilsähnliche Mitwirkung als Superlativ der Integrationsverantwortung einzuordnen wäre, wenn man vom Bundestag eine Rechtsprüfung forderte. Von der Richterbank kam ebenfalls der Hinweis, dass der Deutsche Bundestag doch kein „Vorprüfungsausschuss“ des Bundesverfassungsgerichts sein könne. Dies konzedierte auch die Antragstellerin und führte aus, dass vom Deutschen Bundestag keine ähnlich umfassende Auseinandersetzung mit ultra-vires-Problematiken wie vom Bundesverfassungsgericht erwartet werden könnte, sich dieser aber zumindest mit einer gewissen Anzahl der Problemfelder in seiner Stellungnahme (oder besser dem begehrten Gesetz) hätte beschäftigen müssen – was sofort die kritische Nachfrage des Gerichts provozierte, ob es zu keiner Klage gekommen wäre, wenn sich der Deutsche Bundestag mit einigen der zahlreichen inhaltlichen Kritikpunkte auseinandergesetzt hätte.

Insgesamt ist es nicht überzeugend, für die vorläufige Anwendung von Freihandelsabkommen vom Deutschen Bundestag ein Gesetz zu fordern. Die Vizepräsidentin fragte in diesem Zusammenhang auch treffend nach, was ein solches Gesetz bewirken könne; ob es also ultra-vires oder identitätsverletzende Verhaltensweisen heilen könnte und rang der Antragstellerin dabei das Zugeständnis ab, dass sich das begehrte Mandatsgesetz vom Ratifikationsgesetz nicht unterscheiden würde.

Abgesehen von dem erheblichen Eingriff in die legislative Gewalt, wenn das Bundesverfassungsgericht dem Deutschen Bundestag den Erlass eines Gesetzes aufoktroyieren würde, muss zum einen festgehalten werden, dass durch die Zustimmung zu Art. 218 Abs. 5 AEUV betreffend die vorläufige Anwendung von Verträgen bereits ein „Mandatsgesetz“ vorliegt. Zum anderen ist in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts anerkannt, dass der Deutsche Bundestag bei der Wahrnehmung seiner Integrationsverantwortung über einen Einschätzungsspielraum verfügt – eine Pflichtverletzung durch Unterlassen sollte nur dann möglich sein, wenn sie dem Untermaßverbot nicht genügt.

Dies ist aber bei der substanziellen Stellungnahme des Bundestages vom 22.09.2016 (BT-Drs. 18/9663) nicht der Fall. Der Antrag im Organstreitverfahren dürfte nach alledem erfolglos bleiben – damit ist die Entscheidung über die anhängigen Verfassungsbeschwerden und das weitere Organstreitverfahren, in denen materiell ultra-vires-Akte und verfassungsidentitätsverletzende Handlungen im CETA-Abkommen gerügt werden, aber noch nicht vorgezeichnet. Neues zur Integrationsverantwortung des Deutschen Bundestages ist daher wohl nur dahingehend zu erwarten, dass die Anforderungen an ebendiese durch das Bundesverfassungsgericht nicht verschärft werden, sondern dem Parlament eine gewisse Flexibilität erhalten bleibt.

 

Zitiervorschlag: Pracht, Robert, CETA vor dem Bundesverfassungsgericht: Neues zur Integrationsverantwortung?, JuWissBlog Nr. 119/2020 v. 16.10.2020, https://www.juwiss.de/119-2020/

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Wiss. Mitarbeiter*in (75%), Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Europarecht und Völkerrecht (Prof. Dr. Classen), Universität Greifswald. Bewerbungsfrist: 25.10.2020.

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Wiss. Mitarbeiter*in (50%), Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Europarecht (Prof. Dr. Ludwigs), Universität Würzburg. Bewerbungsfrist: 04.11.2020.

Vier Wiss. Mitarbeiter*innen (Voll- oder Teilzeit), Abteilung für Multidisziplinäre Rechtstheorie (Prof. Dr. Auer), Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte, Frankfurt (Main). Bewerbungsfrist: 01.12.2020.

Mehrere Doktorand*innen (65%), Abteilung für Multidisziplinäre Rechtstheorie (Prof. Dr. Auer), Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte, Frankfurt (Main). Bewerbungsfrist: 01.12.2020.

Assistant Editor beim Verfassungsblog (50 %).

Call for Papers

Monopole im medienindustriellen Komplex? Verwertungsgesellschaften gestern, heute, morgen. Einreichfrist: 30.11.2020.

Junges Digitale Recht 2021, Autonomie oder Kontrolle? Einsendeschluss: 01.12.2020 (verlängert).

Tagungen

Das UN-Abkommen für Wirtschaft und Menschenrechte, Digitales Fachgespräch am 20.10.2020. Anmeldefrist: 19.10.2020.

Die Maßnahmen zur Eindämmung des Corona-Virus, Digitale Konferenz am 27.10.2020.

Münsteraner Gespräche zum Umwelt- und Planungsrecht: Das Bundes-Klimaschutzgesetz, Prof. Dr. Sabine Schlacke, Online-Tagung am 09.12.2020. Anmeldefrist: 04.12.2020.

Das finden wir spannend

 

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Kopflose Coronamaßnahmen: Beherbergungsverbot vor dem OVG Lüneburg

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Von Christoph Schröder

Die lang beschworene „zweite Welle“ der Corona-Pandemie ist in vollem Gange, es gibt aktuell die höchste Anzahl an Neuinfektionen in Deutschland seit Beginn der Pandemie. Die Landesregierungen müssen sich nun Maßnahmen ausdenken, dieser effektiv zu begegnen, was einige Länder dazu bewogen hat, ein sogenanntes Beherbergungsverbot zu erlassen. Solche Beherbergungsverbote sind allerdings politisch umstritten und rechtlich problematisch.

Ein Beherbergungsverbot verbietet es Gaststättenbetreibern und Hoteliers, Gäste aus Risikogebieten aufzunehmen. Als Risikogebiete gelten solche Gebiete, in denen die Neuinfektionsrate innerhalb der letzten sieben Tage 50 Infektionen pro 100.000 Einwohner überschritten hat. Ausnahmen hiervon sehen die entsprechenden Verordnungen etwa vor, wenn ein Gast einen negativen Corona-Test vor Anreise vorlegen kann oder es sich um eine beruflich veranlasste Reise handelt. Nach größerem öffentlichen Protest gegen die Regelungen werden die Beherbergungsverbote nach kurzem Gastspiel in dem Konzert der Coronamaßnahmen nun wieder zurückgenommen (z.B. in Sachsen), auslaufen gelassen (Bayern) oder wenigstens vorläufig gerichtlich außer Kraft gesetzt (etwa Baden-Württemberg und Niedersachsen).

Handwerkliche Ungenauigkeit der Regelung

Die im Eilverfahren getroffene Entscheidung zur Außervollzugsetzung des Beherbergungsverbots in Niedersachsen durch das OVG Lüneburg vom 15. Oktober 2020 (Az. 13 MN 371/20) veranschaulicht mehrere Schwächen in der Ausgestaltung des Beherbergungsverbots. Bereits dem Bestimmtheitsgebots wurde in der nds. Verordnung nicht hinreichend Rechnung getragen. Ob das Beherbergungsverbot nur für Personen gilt, die in einem Risikogebiet gemeldet sind oder ob diese dort ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben müssen, bleibt offen. Verständlicherweise sorgt dies für Unsicherheiten bei Hotelbetreibern und Reisenden. Diese handwerkliche Ungenauigkeit bei der Normsetzung lässt sich sicherlich nicht allgemeingültig zur Beurteilung des Für und Widers von Beherbergungsverboten zur Eindämmung der Pandemie heranziehen. Aufschlussreicher sind dagegen die Erwägungen, die das OVG zu den materiellen Anforderungen der Ermächtigungsgrundlage des § 28 Abs. 1 S. 1 IfSG und der Vereinbarkeit des Beherbergungsverbots hiermit angestellt hat.

Fragwürdige Notwendigkeit

Diese materiellen Anforderungen, wonach die entsprechende Maßnahme des Infektionsschutzes notwendig sein muss, erfüllt das niedersächsische Beherbergungsverbot nämlich nicht. Lediglich nützliche Maßnahmen sind unzulässig, es bedarf einer objektiven Notwendigkeit in Gestalt einer Geeignetheit und Erforderlichkeit. Aufgrund der zahlreichen Ausnahmeregelungen (negativer Corona-Test innerhalb der letzten 48 Stunden vor Einreise, nicht-touristische Übernachtungen, Einreise in das Bundesland für bloße Tagestouren) ist der Anwendungsbereich der Regelung sehr eng, sodass die Geeignetheit des Verbots, das Infektionsgeschehen einzudämmen, bereits bezweifelt werden kann. Die Erfolgsaussichten hinsichtlich dieses legitimen Zwecks sind marginal. Jedenfalls bestehen aber erhebliche Zweifel an der Erforderlichkeit der Regelung. Die Beherbergung als solche wird kaum zu einem erhöhten Infektionsgeschehen beitragen. Ein höheres Risiko birgt laut dem Gericht eher die Ansammlung einer Vielzahl an Reisegästen, sodass Infektionsschutzmaßnahmen, wenn überhaupt, auf die Reisetätigkeit als solche abstellen sollten. Die nachts friedlich schlafenden Hotelgäste werden im Schlaf keine schwer nachverfolgbare Infektionskette weiterführen, wohingegen die Tagestouristen in mitunter überfüllten Fußgängerzonen, wie man sie mancherorts beobachten kann, kaum nachvollziehbaren Kontakt zu einer Vielzahl an Menschen haben könnten. Trotzdem soll ersteres erlaubt, letzteres hingegen verboten sein? Schwer vermittelbar!

Allerdings fehlen auch hinsichtlich der Tagestouristen gesicherte Erkenntnisse, inwiefern innerhalb der letzten Wochen ein erhöhtes Infektionsgeschehen auf innerdeutsche Reisen zurückzuführen ist. Auch dem Umstand, dass ein erhöhtes Infektionsgeschehen in einem bestimmten Landkreis dadurch zustande kommen kann, dass ein Ausbruch innerhalb eines klar bestimmbaren Personenkreises stattgefunden hat (man denke hier etwa an Großausbrüche in Altenheimen oder Schlachtbetrieben), wird nicht hinreichend Rechnung getragen. Aufgrund dieser Zweifel an der Effektivität des Beherbergungsverbots wird die Berufsausübungsfreiheit der Gastronomen (respektive die Freizügigkeit von Urlaubsreisenden, wie in einem Verfahren vor dem VGH Baden-Württemberg) letztendlich unangemessen eingeschränkt.

Diese Auffassung ist unter den Obergerichten nicht unumstritten. Das OVG Schleswig beispielsweise hat das Beherbergungsverbot für Schleswig-Holstein aufrechterhalten. Anders als das OVG Lüneburg hat das OVG Schleswig hier allerdings scheinbar (der Beschluss ist aktuell noch nicht veröffentlicht worden, der Autor bezieht sich auf die Pressemitteilung des OVG Schleswig) lediglich eine Folgenabwägung vorgenommen und ist deutlich weniger umfassend in die materielle Prüfung des Beherbergungsverbots eingestiegen. Die Entscheidung des OVG Schleswig dürfte somit weniger sichere Rückschlüsse auf das Ergebnis in der Hauptsache zulassen als der Beschluss des OVG Lüneburg. Auch die Argumentation des OVG Schleswig, es sei finanziell und auch im Übrigen zumutbar, einen Test vorzulegen, der nicht älter als 48 Stunden sein darf, ist angesichts aktuell begrenzter Testkapazitäten und damit einhergehender Verzögerungen bis zum Vorliegen des Ergebnisses nicht überzeugend.

Gerichtlich verengter Entscheidungsspielraum des Staates

Das Beherbergungsverbot fußt auf dem nachvollziehbaren Bedürfnis der Landesregierungen, gegen die erneut erhöhte Dynamik des Infektionsgeschehens Maßnahmen präsentieren zu können. Der Erlass der Beherbergungsverbote in den Bundesländern war allerdings kopflos. Am Beispiel Niedersachsens hat sich gezeigt, dass bereits die Eignung von Beherbergungsverboten äußerst zweifelhaft ist. Dies rechtfertigt auch die Kritik an Beherbergungsverboten, wie sie nicht nur aus der Gastronomie, sondern auch von Gesundheitsexperten in der Politik kommt. Die Pandemie stellt den Normgeber immer wieder aufs Neue vor die Herausforderung, sowohl wirksame als auch auf Akzeptanz stoßende Regelungen zu treffen. Mit zunehmender Dauer der Pandemie ist jedoch zu beobachten, dass die Gerichte kritischer gegenüber den Infektionsschutzmaßnahmen werden. Wäre noch vor einem halben Jahr eine Sperrstunde für Bars mutmaßlich ohne größere Bedenken als zulässig erachtet worden, verweist das VG Berlin nun in zwei kürzlich ergangenen Beschlüssen auf die fehlende Erforderlichkeit einer solchen. Mit der zunehmend strengeren Kontrolle durch die Gerichte verengt sich auch der Ermessensspielraum, den der Staat bei der Wahl der Infektionsschutzmaßnahmen hat, immer mehr. Eine Option wäre es für den Staat, nach dem trial and error-Prinzip seine Grenzen langsam abzutasten und zu probieren, was die Gerichte ihm (gerade noch) durchgehen lassen. Für die Rechtssicherheit hinsichtlich der Maßnahmen wäre das fatal. Vielmehr muss der Staat von vornherein verhältnismäßige und hinreichend bestimmte Regelungen treffen und so automatisch eine erhöhte Akzeptanz der Normadressaten bewirken.

Alternative: Höhere Akzeptanz durch bewährte, lokal begrenzte Kontaktbeschränkungen

Wie kann dem Bedürfnis der Landesregierungen nun aber erfolgversprechend Rechnung getragen werden? Eine jedenfalls geeignetere Methode ist ein abgestuftes Restriktionskonzept auf Grundlage der sog. Corona-Ampel. Das bedeutet, dass je nach Infektionsgeschehen regional unterschiedliche Restriktionen (bspw. Kontaktbeschränkungen auf eine festzulegende Höchstpersonenzahl) gelten sollen. Solche Kontaktbeschränkungen haben sich bereits während der „ersten Welle“ als wirksam erwiesen. Dieser Umstand lässt auch vermuten, dass lokal begrenzte Kontaktbeschränkungen auf eine höhere gesellschaftliche Akzeptanz stoßen als landesweite Beherbergungsverbote zweifelhafter Wirksamkeit. Durch die lokale Beschränkung wird bewirkt, dass nur so viele Personen wie nötig, gleichzeitig aber so wenig wie möglich von Einschränkungen betroffen werden. So berücksichtigt man das Verhältnismäßigkeitsprinzip und wahrt ein Höchstmaß an Rechtsstaatlichkeit in der Pandemiebekämpfung. Auch trägt man so der Auffassung beispielsweise des VGH Baden-Württembergs Rechnung, dass „Treiber der Pandemie“ weniger überschaubare Reisegruppen als eher Feiern einer Vielzahl von Menschen seien. Durch wenig effektive Verbote vermag der Normgeber diese Herausforderung nicht zu meistern. Eher lohnt ein Rückgriff auf bekannte und bewährte Instrumente.

 

 

Zitiervorschlag: Schröder, Christoph, Kopflose Coronamaßnahmen: Beherbergungsverbot vor dem OVG Lüneburg, JuWissBlog Nr. 120/2020 v. 19.10.2020, https://www.juwiss.de/120-2020/

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