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Die Polizei als letzte Instanz?

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von JOHANNES FRANKE und NICO SCHRÖTER

Johannes Franke - sw Nico SchröterZelte in Ordnung – nein, doch nicht!? In der Nacht auf Sonntag hebt das VG Hamburg die sofortige Vollziehbarkeit einer Polizeiverfügung auf, die u.a. den Aufbau von Schlafzelten im Rahmen eines „Protestcamps“ im Elbpark Entenwerder verbietet. Nur 24 Stunden später hält dasselbe Gericht den Sofortvollzug des erneut ausgesprochenen Übernachtungsverbots für rechtmäßig – zu diesem Zeitpunkt hatte die Polizei den Aufbau des Camps bereits gewaltsam verhindert. Die Vorgänge machen faktische Defizite des verwaltungsgerichtlichen (Eil-)Rechtsschutzes im Versammlungsrecht sichtbar. Die abrupte Kehrtwende des VG schärft dabei das Bewusstsein für den politischen Druck, den polizeilich geschaffene Fakten auf die Judikative ausüben können.

Gegenstand der Auseinandersetzungen ist das mehrtägige antikapitalistische Camp „Alternativen zum Kapitalismus leben und sichtbar machen“. Im Hintergrund stehen materiell-rechtliche Fragen über die Reichweite des grundgesetzlichen Versammlungsschutzes angesichts „neuer“ Protestformen (s. hierzu auch den Beitrag von Engelmann/Pichl, der am heutigen Nachmittag auf JuWiss erscheint). Denn neben unmittelbar politischen Angeboten sollen dort auch Übernachtungsmöglichkeiten und Verpflegungseinrichtungen geschaffen werden. Nachdem das Camp zunächst vollständig verboten werden sollte, beschäftigen sich zunächst das VG Hamburg, das OVG Hamburg und schließlich das BVerfG mit der Frage, ob es dem Anwendungsbereich des Versammlungsrechts unterfällt.

Auch nach der Verlegung vom zentraleren Hamburger Stadtpark in den Elbpark Entenwerder versuchen die Hamburger Behörden vehement, Übernachtungen auf dem Protestgelände zu verhindern. Am Samstag untersagt die Polizei unter anderem das Aufstellen von Schlafzelten, Duschen und Küchen und ordnet die sofortige Vollziehung an. Noch am selben Tag gewährt das VG Hamburg einstweiligen Rechtsschutz und setzt die Vollziehbarkeit der Verfügung aus. Begründet wird dies vor allem mit einem Ermessensausfall. Die Polizei hatte in ihrer Begründung der Verfügung die Verlegung des Camps in den Elbpark Entenwerder weitestgehend schlicht ignoriert. Einen weiteren Antrag nach § 123 VwGO auf Duldung des Camps lehnt das VG dagegen als unzulässig ab; dem Rechtschutzinteresse sei bereits entsprochen, da „nicht ersichtlich [sei], dass die Antragsgegnerin […] faktische Verhinderungsmaßnahmen ergreifen wird“ (S. 17 des Beschlusses). Tatsächlich verhindert die Polizei aber am Sonntag weiterhin den Aufbau des Protestcamps. Sie kündigt an, ihre Argumentation „geschärft“ zu haben und eine erneute Entscheidung in ihrem Sinne herbeiführen zu wollen. In der Zwischenzeit untersagt sie erneut – zunächst mündlich am Nachmittag, dann gegen 18:45 Uhr schriftlich und mit neuer Begründung – das Aufstellen von Schlafzelten, Duschen und Küchen. Während des gesamten Tages verwehrt sie den Camper*innen den Zugang zum Protestgelände. Am späten Abend setzt die Polizei Pfefferspray ein und beschlagnahmt bereits errichtete Schlafzelte. Im Laufe der Nacht erfüllt das VG Hamburg schließlich die Erwartungen der Polizei, indem es einen gegen die erneute Verfügung gerichteten Eilantrag zurückweist und so das Vorgehen der Polizei (vermeintlich) legitimiert. Insbesondere sei die Untersagung des Aufstellens von Schlafzelten, Duschen und Küchen zulässig, da es sich hierbei nicht um „versammlungsimmanente“ Infrastruktur handele.

Defizite des einstweiligen Rechtsschutzes

Unabhängig davon, ob die Vorgehensweise der Polizei im Ergebnis rechtmäßig oder – wofür einiges sprechen dürfte – zumindest teilweise rechtswidrig war, legen die Ereignisse jedenfalls faktische Rechtsschutzdefizite im Versammlungsrecht offen, die den Ordnungsbehörden Raum für strategisches Verhalten eröffnen. Die vom VG Hamburg in seinem ersten Beschluss geäußerte Ankündigung, den Demonstrant*innen sei es nun „vorläufig erlaubt, das Protestcamp nach Maßgabe der Anmeldung […] einzurichten“ (S. 16 f.), stand faktisch von vornherein unter dem Vorbehalt, dass die Polizei vom erneuten Erlass einer gleichlautenden Verfügung absehen werde. Denn wollte die Polizei an ihrer Linie festhalten, konnte sie aufgrund des ursprünglichen Ermessensausfalls ihre Erwägungen nicht nachträglich im Beschwerdeverfahren vor dem OVG ergänzen, sondern „musste“ einen neuen Erstbescheid erlassen. Dies geschah zunächst mit der mündlichen Verfügung am Sonntagnachmittag und dann mit der am Abend folgenden schriftlichen Verfügung, die jeweils umgehend zwangsweise durchgesetzt wurden.

Zwar waren wohl jedenfalls die polizeilichen Vollstreckungsmaßnahmen aufgrund der mündlichen Verfügung – das Verhindern des Betretens des Geländes – mangels schriftlicher Begründung des Sofortvollzugs (§ 80 Abs. 3 VwGO) rechtswidrig. Entbehrlich wäre eine solche nämlich nur im Falle einer „Notstandsmaßnahme im öffentlichen Interesse“ (§ 80 Abs. 3 S. 2 VwGO) gewesen. Das kurzfristige (bis zur schriftlichen Verfügung) Betreten einer Grünanlage durch eine überschaubare Anzahl von Personen fällt kaum in diese Kategorie. Dies hilft den Demonstrant*innen jedoch wenig; eine nachträgliche Feststellung der Rechtswidrigkeit ändert nichts daran, dass ihre Grundrechtsausübung faktisch verhindert wurde. Selbst, wenn man auf die schriftliche Verfügung abstellt und ihre (zweifelhafte) Rechtmäßigkeit unterstellt, bleibt die Situation unbefriedigend. Denn diese „geschärft“ begründete Verfügung ermöglicht erneut den Sofortvollzug, der dann abermals gerichtlich angegriffen werden muss. Der damit einhergehende Zeitablauf ist gerade im Versammlungsrecht äußerst problematisch und ermöglicht polizeiliche Behinderungs- und Verzögerungsstrategien, die auch gezielt zur Provokation eingesetzt werden können. Aus Sicht der Demonstrant*innen stellt sich die Situation nachvollziehbarerweise so dar, dass ihnen ihr gerichtlich bestätigtes Recht zum Campaufbau verwehrt wird. Dies hätte sie durchaus zu dem Versuch verleiten können, ihren vermeintlichen Rechtsanspruch gewaltsam durchzusetzen. Dass es hierzu nicht kam, ist wohl der erfreulichste Aspekt der Ereignisse des Wochenendes.

Vor dem Hintergrund dieser faktischen Rechtsschutzdefizite wird der vom Veranstalter zugleich gestellte Antrag auf einstweilige Duldung des Campaufbaus verständlich und ein dahingehendes Rechtsschutzinteresse unabweisbar. Zu einem Erfolg in der Sache hätte ein solcher Antrag freilich nur im Falle einer (eher fernliegenden) Ermessensreduzierung auf Null (dahingehend, keinerlei Auflagen zu erlassen) führen können. Zur Effektivierung des Rechtsschutzes und Reduzierung des Eskalationspotentials wäre stattdessen der Gesetzgeber gefordert. Abhilfe könnte de lege ferenda eine dem § 80 Abs. 7 VwGO vergleichbare Regelung schaffen, welche die erneute Anordnung des Sofortvollzugs unter den Vorbehalt richterlicher Prüfung stellte. Die Ergänzung und ggf. Änderung der Ermessenserwägungen erfolgte dann innerhalb des gerichtlichen Eilverfahrens, was im Vergleich zu einer erneuten einseitigen Verfügung akzeptanzfördernd wirkte. Dies würde zugleich den Anreiz erhöhen, von vornherein eine tragfähige Begründung zu liefern, da die Versammlung in der Zwischenzeit nicht ohne gerichtliche Bestätigung unterbunden werden dürfte.

Verwaltungsgerichte unter Druck

Die derzeitige Rechtslage versetzt das VG zudem in eine Situation, in dem es sich erheblichem faktischem Druck ausgesetzt sieht, die polizeiliche Linie nachträglich zu legitimieren. Hätte das VG im Rahmen seiner Folgenabwägung inzident auch die Rechtswidrigkeit der zweiten Verfügung vom Sonntag festgestellt, wären Polizeiführung und Innensenator endgültig diskreditiert gewesen. Neben dem politischen Schaden, den weitere Rücktrittsforderungen und Diskussionen um eine etwaige Haft- oder Strafbarkeit der Verantwortlichen (siehe „Hamburger Kessel“) angerichtet hätten, wäre eine Entscheidung „gegen“ die Polizei auch mit der Gefahr einhergegangen,  die Stimmung auf Seiten der Demonstrant*innen weiter aufzuheizen. Das VG wurde durch die konfrontative Strategie der Behörden paradoxerweise in eine De-eskalationsrolle gedrängt, die eigentlich die Polizei im Rahmen ihres Einsatzes hätte wahrnehmen müssen. Selbst wenn man die im Stadtstaat Hamburg notorisch engen Verflechtungen zwischen Judikative und Politik außer Acht lässt, lastete so ein erheblicher faktischer Druck auf dem Gericht, sich der Strategie der Polizei zu beugen.

Vor diesem Hintergrund ist wohl auch die fragwürdige und bisweilen widersprüchliche Kehrtwende des VG zu sehen. Dies betrifft namentlich die Frage, ob das Camp in seiner Gesamtheit überhaupt dem Schutz der Versammlungsfreiheit unterfällt. In seinem Beschluss vom Samstag führte das Gericht noch aus, „dass das Übernachten auf dem Gelände und die dafür erforderliche Infrastruktur“ nach den Ausführungen des BVerfG „dem Schutz (…) des Versammlungsrechts zu unterstellen ist“ und lehnte daher die Argumentation der Behörde ab, Übernachtungen seien kein „funktioneller oder symbolischer Teil der Meinungskundgabe“ (S. 15 f.). In seinem zweiten Beschluss übernahm das Gericht dann jedoch eben dieses Argument und führte aus, das „Übernachten in einem Zelt“ sei „nicht Ausdruck einer Meinungsäußerung, denn schlafend kann man grundsätzlich keine Meinung kundtun“ (S. 15). Auf diesen Gedanken war das VG offenbar am Tag zuvor noch nicht gekommen.

Wie geht es weiter?

Zum einen wird der Antragsteller wohl Beschwerde zum OVG Hamburg einlegen. Mit Blick auf die in diesem Zusammenhang bereits ergangene Entscheidung des OVG in diesem Zusammenhang, dürften die Erfolgsaussichten hier jedoch gering sein. In letzter Instanz würde die Sache damit erneut beim BVerfG landen, welches sich diesmal jedoch einer Aussage über die konkrete Reichweite des Schutzbereichs der Versammlungsfreiheit kaum wird entziehen können. Für die kommenden Tage lässt die konfrontative Strategie von Senat und Ordnungsbehörden jedenfalls nichts Gutes erwarten.

Anmerkung: Siehe zum Thema sowie den Vorgängen auf Entenwerder auch den soeben erschienenen Beitrag von Benjamin Rusteberg im Verfassungsblog.


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