von KILIAN WEGNER
Mit einer einstweiligen Anordnung vom 6.5.2016 folgt die 3. Kammer des Zweiten Senats des BVerfG konsequent dem Weg, den die sog. „Solange-IIa“-Entscheidung für die verfassungsrechtliche Einzelfallprüfung von Auslieferungsentscheidungen vorgezeichnet hat. Die Anordnung wirft Fragen auf, die sowohl die Zukunft des Auslieferungsverkehrs zwischen der Bundesrepublik Deutschland und anderen Staaten als auch das Kooperationsverhältnis zwischen BVerfG und EuGH betreffen.
Sachverhalt
Der Beschwerdeführer ist ein kroatischer Staatsbürger, der während eines Aufenthalts in Berlin festgenommen wurde, weil gegen ihn ein Europäischer Haftbefehl vorlag. In dem zugrundeliegenden Strafverfahren verfolgt die englische Justiz den Beschwerdeführer wegen Mittäterschaft an einem Mord. Das Kammergericht Berlin erklärte die Auslieferung an das Vereinigte Königreich für zulässig. Hiergegen wandte sich der Betroffene mit einer Verfassungsbeschwerde und einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung. Er begründete seine Rechtsmittel insbesondere damit, dass in dem gegen ihn geplanten Mordprozess der § 35 des Criminal Justice and Public Order Act (CJPOA) von 1994 zur Anwendung kommen würde. Diese – auch im Vereinigten Königreich umstrittene – Vorschrift erlaube es, das Schweigen eines Angeklagten im Rahmen der Beweiswürdigung zu seinem Nachteil zu werten. Zwar dürfe eine Verurteilung ausweislich von § 38 Abs. 3 CJPOA nicht allein auf Schlüssen beruhen, die das Gericht aus dem Schweigen des Angeklagten zieht, dennoch bleibe der § 35 CJPOA hinter dem verfassungsrechtlichen Schutz der Selbstbelastungsfreiheit in der Bundesrepublik Deutschland zurück. Die Exequaturentscheidung des Kammergerichts verletze den Beschwerdeführer deshalb in seinen Rechten aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG.
Entscheidung des BVerfG
Mit der eingangs genannten Anordnung hat das BVerfG die Auslieferung des Antragstellers vorerst gestoppt. Während das Kammergericht Berlin seine Entscheidung maßgeblich auf einen Beschluss des BVerfG vom 22.6.1992 (2 BvR 1901/91) stützte, in dem das Gericht eine dem § 35 CJPOA sehr ähnliche Regel im Hinblick auf ein Auslieferungsersuchen für verfassungsrechtlich unbedenklich erklärt hatte, hält es die 3. Kammer des Zweiten Senats nun für „zweifelhaft“, ob an dieser Position festzuhalten ist (Rn. 23 a.E.). Näheres bleibe der Hauptsacheentscheidung vorbehalten.
Das Ende des Auslieferungsverkehrs innerhalb und außerhalb der EU?
Unabhängig von den sogleich noch gesondert behandelten unionsrechtlichen Implikationen der Rechtssache befindet sich das BVerfG im Hinblick auf die Hauptsacheentscheidung über die Verfassungsbeschwerde in einer schwierigen Situation:
Die eine denkbare Lösungsmöglichkeit, den § 35 CJPOA für vereinbar mit dem deutschen Verständnis des „nemo tenetur“-Grundsatzes zu erklären, ist durch den in der Anordnungsbegründung ausführlich zitierten BVerfG-Beschluss vom 7.7.1995 (2 BvR 326/92) verbaut. Dort heißt es ausdrücklich, dass jedenfalls das vollständige Schweigen eines Beschuldigten zur Sache nicht als belastendes Indiz im Strafverfahren verwendet werden dürfe. Diesen Standpunkt wird das Gericht in Hinblick auf den deutschen Strafprozess (hoffentlich) nicht relativieren wollen.
Würde das BVerfG der Verfassungsbeschwerde andererseits wegen der drohenden Verletzung der Selbstbelastungsfreiheit stattgeben, müsste die Bundesrepublik Deutschland den Auslieferungsverkehr mit dem Vereinigten Königreich konsequenterweise weitgehend einstellen, denn § 35 CJPOA ist eine allgemeine Prozessnorm, die in einer Vielzahl von britischen Strafverfahren gilt. Angesichts der langen Rechtshilfetradition zwischen beiden Staaten ist diese Lösung jedoch nicht nur kontraintuitiv, sondern provoziert auch eine kriminalpolitische Kontrollfrage: Wenn Grundrechte schon eine Auslieferung in das Vereinigte Königreich verbieten, wo bleibt sie dann noch zulässig? Man muss sich in diesen Zusammenhang vor Augen führen, dass der „nemo tenetur“-Grundsatz nicht die einzige Strafverfahrensgarantie ist, die in anderen Rechtsordnungen einen (etwas) geringeren Schutzstandard aufweist als in Deutschland. Beispielsweise kennen viele EU-Mitgliedstaaten Regeln zur materiellen Beweislastumkehr im Strafrecht (vgl. Annex 1 im Link), die aus deutscher Perspektive zum Teil gegen das zur Verfassungsidentität gehörende Schuldprinzip verstoßen. Wenn die Bundesrepublik hier auch schon wegen geringer Abweichungen in verstärktem Maße Auslieferungen verweigern würde, würde das die Erfolgsaussichten deutscher Auslieferungsersuchen praktisch wahrscheinlich drastisch senken. Das wiederum wäre – gerade angesichts der offenen Grenzen im Schengenraum – sowohl aus kriminalpolitischen Gründen als auch von der Schutzzweckdimension der Grundrechte (Anspruch auf Strafverfolgung!) her gedacht unhaltbar.
Ein denkbarer Ausweg bestünde darin, ausländische Strafverfahrensordnungen bei der Entscheidung über eine Auslieferung nicht an demselben verfassungsrechtlichen Maßstab zu überprüfen, der an das deutsche Strafprozessrecht angelegt wird. Das BVerfG könnte geringe (!) Abweichungen von den deutschen Standards im Einzelfall akzeptieren und dies mit dem Schutzgut der Funktionsfähigkeit des internationalen Auslieferungsverkehrs rechtfertigen. Indem das BVerfG die Selbstbelastungsfreiheit deutscher Prägung (ebenso wie das Schuldprinzip) als „selbstverständlichen Ausdruck einer rechtsstaatlichen Grundhaltung“ der unveräußerlichen Verfassungsidentität zuordnet und sie grundrechtsdogmatisch unmittelbar auf die keiner Abwägung zugänglichen Menschenwürdegarantie aus Art. 1 Abs. 1 GG stützt, ist dieser Weg jedoch – zumindest rhetorisch – verbaut. Dem Gericht bleibt an dieser Stelle kaum etwas anderes übrig, als sich von seiner verabsolutierenden „Hochzonung“ der Auslieferungsproblematik zum Menschenwürde- und Identitätsproblem (treffend Schönberger, JZ 2016, 422, 424) zu verabschieden und sich stattdessen auf eine differenzierende Lösung im Fahrwasser der bewährten grundrechtlichen Schrankendogmatik zu besinnen.
Zum Kooperationsverhältnis von BVerfG und EuGH
Zusätzlich verkompliziert wird der Fall durch den Einfluss des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl (Rb-EuHB), der die Bundesrepublik mangels eines einschlägigen Auslieferungsverweigerungsgrunds hier – zumindest prima facie – verpflichtet, den Beschwerdeführer in das Vereinigte Königreich zu überstellen. In seinem viel beachteten „Solange-IIa“-Beschluss hat der Zweite Senat des BVerfG kürzlich erklärt, dass auch Auslieferungsentscheidungen, die der Rb-EuHB determiniert, im Einzelfall daran zu messen sind, ob sie die durch Art. 79 Abs. 3 GG geschützte Verfassungsidentität des Grundgesetzes berühren. Im konkreten Fall sah sich der Senat dabei allerdings nicht gezwungen, den Anwendungsvorrangs des Unionsrechts mittels dieser Rechtsfigur zu begrenzen, weil eine Auslegung des Rb-EuHB im Lichte von EU-Grundrechtecharta und EMRK ergebe, dass die Bundesrepublik unionsrechtlich nicht verpflichtet sei, den Beschwerdeführer nach Italien zu überstellen.
Dieses Ergebnis des „Solange-IIa“-Beschlusses ist in materiell-rechtlicher Hinsicht richtig. Verfahrensrechtlich ist die Entscheidung allerdings zu Recht kritisiert worden. Die Überprüfung von sekundärem Unionsrecht (wie z.B. dem Rb-EuHB) am Maßstab des Unionsprimärrechts ist – von den reichlich überstrapazierten Ausnahmetatbeständen der acte-clair-Doktrin abgesehen – eine Domäne des EuGH, den das BVerfG deshalb in einem Vorabentscheidungsverfahrens mit dieser Frage hätte betrauen müssen (so auch die hier im Blog vertretene Auffassung). Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass der EuGH dem BVerfG in seinem Urteil zu der verbundenen Rechtssache Aranyosi und Căldăraru entgegengekommen ist und bestätigt hat, dass der Rb-EuHB bei primärrechtskonformer Auslegung die mitgliedstaatlichen Behörden nicht verpflichtet, einen Europäischen Haftbefehl zu vollstrecken, wenn objektive Anhaltspunkte dafür sprechen, dass der Zielstaat die in der EU-Grundrechtecharta und der EMRK verbrieften Grundrechte des Beschuldigten verletzt. Das BVerfG täte gut daran, die ausgestreckte Hand des EuGH anzunehmen, und ihm im hier besprochenen Fall mit einer Anfrage nach Art. 267 Abs. 3, Abs. 4 AEUV die Gelegenheit zu geben, ein unionsrechtliches „nemo tenetur“-Prinzip auf Grundlage der Grundrechtecharta zu konturieren.