VON MICHAEL WRASE
Vorlagen für Bundesgesetze können gemäß Art. 76 Abs. 1 GG durch die Bundesregierung, aus der Mitte des Bundestages oder durch den Bundesrat in den Bundestag eingebracht werden. Die Bedeutung der drei Gesetzesinitiatoren zeigt sich allerdings erst, wenn man sich die tatsächliche Praxis des Gesetzgebungsverfahrens anschaut. Hier ist die Bundesregierung mit Abstand der wichtigste Gesetzesinitiant. Die von ihr eingebrachten Entwürfe weisen eine konstant hohe ‚Erfolgsquote‘ auf: So werden etwa 90 Prozent aller von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzesentwürfe schließlich – wenn auch mit mehr oder weniger großen Änderungen – zum Gesetz.
Für Gesetzesvorlagen „aus der Mitte des Bundestages“ ergibt sich ein anderes Bild: Hier liegt die Quote erfolgreicher Gesetzesinitiativen zwischen 30 und 35 Prozent. Normalerweise sind nur die Entwürfe aus den Reihen der Regierungsfraktionen erfolgreich. Meist werden sie in Abstimmung mit den Ministerien ausgearbeitet, jedoch von den Abgeordneten der Regierungsparteien im Bundestag eingebracht. Gesetzesinitiativen aus den Reihen der Oppositionsfraktionen haben dagegen in der Regel keine Aussicht auf Erfolg. Ihre realpolitische Bedeutung liegt vor allem darin, den eigenen politischen Handlungswillen zu verdeutlichen und Alternativen zu den Maßnahmen der Bundesregierung aufzuzeigen. Vor diesem Hintergrund hat das Bundesverfassungsgericht betont, dass der Initiant dem Wesen der Gesetzesinitiative entsprechend verlangen kann, dass das „Gesetzgebungsorgan sich mit seinem Vorschlag beschäftigt. Es muss darüber beraten und Beschluss fassen“.
Ähnlich verhält es sich mit dem Initiativrecht des Bundesrates. Die Praxis der vergangenen Legislaturperioden zeigt, dass nur eine Minderzahl der vom Bundesrat beschlossenen Gesetzesentwürfe am Ende tatsächlich Gesetzeskraft erlangt. Die ‚Erfolgsquote‘ liegt hier lediglich bei 15 bis 25 Prozent aller Initiativen. Dafür gibt es unterschiedliche Gründe. Mitunter beinhalten Bundesratsvorlagen Alternativentwürfe zu Maßnahmen der Bundesregierung, weshalb sie von der Bundestagsmehrheit nicht unterstützt werden. Selbst wenn allerdings der Sache nach (weitgehende) Einigkeit besteht, lassen sich Regierung und Bundestag das ‚Heft des Handelns‘ ungern aus der Hand nehmen. Sie bringen gegebenenfalls eigene Entwürfe ein, die sie den Bundesratsvorlagen vorziehen. Wie eine Durchsicht der erfolgreichen Bundesratsinitiativen aus der 17. Legislaturperiode zeigt, haben vor allem solche Vorlagen Erfolgsaussichten, die überparteilichen länderspezifischen Interessen dienen oder sich mit punktuellen Einzelproblemen befassen.
Bemerkenswert ist dennoch, dass sich seit den 1970er Jahren ein erheblicher Bedeutungszuwachs der Bundesratsinitiativen verzeichnen lässt. Dies zeigt, dass die Länder über den Bundesrat zunehmend – auch über die effektive Mitwirkung bei zustimmungspflichtigen Gesetzen hinausgehend – bundespolitisch Einfluss nehmen (wollen). Es geht – ähnlich wie es das Bundesverfassungsgericht zum Initiativrecht der Minderheit im Bundestag festgestellt hat – nicht zuletzt darum, aus den Ländern heraus einen bundespolitischen Willen zu artikulieren und die Regierung beziehungsweise die Bundestagsmehrheit zu einer eigene Positionierung anzuhalten.
Initiativrecht des Bundesrates wird ausgebremst
Diese Funktion des Gesetzesinitiativrechts des Bundesrates wird jedoch in der Praxis des Bundestags dadurch konterkariert, dass Bundesratsvorlagen oft sehr verzögert oder gar nicht behandelt werden. Wie eine interne Auswertung der Dokumentationsstelle des Bundesrates ergeben hat, werden Bundesratsinitiativen im Durchschnitt erst nach über 250 Tagen (!) in erster Lesung im Bundestag behandelt. Die Frist nach Art. 76 Abs. 3 Satz 1 und 2 GG, innerhalb derer die Bundesregierung die Vorlage des Bundesrates dem Bundestag nebst Stellungnahme zuzuleiten hat, wird somit durchschnittlich um mehr als 200 Tage bis zur ersten Lesung vom Bundestag eigenmächtig ‚verlängert‘. Diese Zahlen sind auch für gestandene Parlamentspraktiker frappierend.
Das Gesetzgebungsinitiativrecht des Bundesrates gibt diesem eigentlich ein Recht auf Beratung und Beschlussfassung des Bundestags in „angemessener Frist“. Dieses früher aus dem Grundsatz der Verfassungsorgantreue abgeleitete Organrecht wurde mit der Verfassungsreform 1994 sogar ausdrücklich in Art. 76 Abs. 3 Satz 6 GG verankert. Sinn und Zweck dieser Bestimmung war es nach dem Willen des verfassungsändernden Gesetzgebers ausdrücklich, „Waffengleichheit“ zwischen Bundestag und Bundesrat bei der Behandlung von Gesetzesvorlagen herzustellen und der bereits damals gängigen Praxis der Verschleppung der Bundesratsinitiativen entgegenzuwirken. Eine wesentliche Ursache für den bisher in der Verfassungspraxis geringen Wirkungsgrad des Initiativrechts des Bundesrats, so stellte die Gemeinsame Verfassungskommission fest, sei die Gefahr der Verzögerung von Vorlagen durch den Bundestag. Hier sollte durch die ausdrückliche Verankerung der Pflicht im Grundgesetz Abhilfe geschaffen werden.
Allerdings hat sich an der Praxis des Bundestags, wie gesehen, bis heute nichts geändert. So interpretiert der Geschäftsordnungsausschuss des Bundestags den Begriff der „angemessenen Frist“ in einem sehr unbestimmten Sinn und lässt eine Vielzahl von Gründen für eine Nichtbehandlung oder Aussetzung gelten. Insbesondere soll eine Aussetzung oder Vertagung möglich sein, wenn die betroffene Vorlage zusammen mit einer angekündigten oder erwarteten anderen, im Zusammenhang stehenden Vorlage beraten werden soll. Es reicht dann in der Praxis meist schon aus, dass die Bundesregierung eine mögliche eigene Initiative ankündigt oder der Bundestag aus einem anderen Grund erst einmal abwarten möchte.
Verstoß gegen Verfassungswortlaut
Diese Praxis widerspricht dem eindeutigen Zweck des Art. 76 Abs. 3 Satz 6 GG und dessen Entstehungsgeschichte. Er soll gerade der Verschleppung von Bundesratsinitiative in der Parlamentspraxis entgegenwirken. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verständlich, weshalb Gesetzesvorlagen des Bundesrates nicht ebenso zügig in erster Lesung behandelt werden wie die Vorlagen der Bundesregierung, sondern im Durchschnitt über 200 Tage im Zustand der Nichtbehandlung verweilen. Nach dem Willen des verfassungsändernden Gesetzgebers soll eine „verzögerliche“ Behandlung im Bundestag gerade nicht mit dem Hinweis gerechtfertigt werden können, die Bundesregierung plane „in absehbarer Zeit eine das gleiche Thema betreffende Gesetzesinitiative“. Schließlich ist die Bundesregierung bereits nach Art. 76 Abs. 3 Satz 1 GG bei der Zuleitung an den Bundestag beteiligt und muss dazu innerhalb von sechs beziehungsweise neun Wochen Stellung nehmen.
Im Ergebnis wird durch die Parlamentspraxis das Initiativrecht des Bundesrates als politisches Signal- und ‚Druckmittel‘ gegenüber der Bundesregierung und dem Bundestag entwertet, also gerade in der Funktion, in der es, wie gesehen, besonders wirkungsvoll sein könnte, ausgebremst. Die intendierte „Waffengleichheit“ zwischen den Verfassungsorganen Bundesrat und Bundestag wird durch die verfassungswidrige Praxis der verzögerten Behandlung im Kern verfehlt.
Position des Bundesrates muss gestärkt werden
Die verfassungswidrige Praxis ließe sich ändern, wenn die Position des Bundesrates – entsprechend den Einflussmöglichkeiten der anderen Gesetzesinitianten nach Art. 76 Abs. 1 GG – verfahrensrechtlich effektiv abgesichert würde. Dies könnte, was sich an dieser Stelle nur andeuten lässt, auf einer ersten Stufe durch Informationsrechte des Bundesrates und eine korrespondierende Begründungspflicht des Bundestags über den Verfahrensgang der Bundesratsvorlagen im Bundestag geschehen. Derartige Pflichten lassen sich dem Grundsatz der Verfassungsorgantreue entnehmen. Will der Bundestag eine Bundesratsvorlage nicht zügig in das Beratungsverfahren einbringen und dort (weiter) behandeln, so muss er dies begründen und die Begründung dem Bundesrat mitteilen. Erscheinen die angeführten Gründe dem Bundesrat als nicht tragfähig, so kann er eine zügige Behandlung und Entscheidung über seine Vorlage im Bundestag verlangen. Im Konfliktfall sollten sich die Gesetzgebungsorgane austauschen und möglichst ins Benehmen setzen. Bereits durch eine solche Verpflichtung zur Information und Konsultation dürfte sich die Verzögerungstendenz des Bundestags deutlich vermindern. Jedenfalls ist die bestehende, gegen Art. 76 Abs. 3 Satz 6 GG verstoßende Staatspraxis nicht weiter hinnehmbar.