Quantcast
Channel: JuWissBlog
Viewing all articles
Browse latest Browse all 2369

Ausgebremste Grundrechte – Die geplante Ausgangssperre im Infektionsschutzgesetz

$
0
0

von FREDERIK FERREAU

Zur Bekämpfung der Corona-Pandemie will die Bundesregierung die „Notbremse“ ziehen: Das Infektionsschutzgesetz soll verschärft werden und künftig auch eine nächtliche Ausgangssperre ab einem festen Inzidenzwert enthalten. Von diesem Vorhaben sollten die Parlamentarier jedoch Abstand nehmen: Es ist mit den Grundrechten des Grundgesetzes nicht vereinbar.

Das politische Handeln in der Pandemie ist geprägt von Zahlen und Graphiken. Sie formen wirkmächtige Bilder und suggerieren die Alternativlosigkeit drastischer Maßnahmen. Dabei ist die Entwicklung der Infektionszahlen stets nur eine von vielen Informationen, welche Politik und Gesellschaft in ihre Meinungsbildung einbeziehen müssen. Eine andere Information ist die Bedeutung der Freiheit. Leider fehlt es an Graphiken, die Freiheitsverluste ebenso wirkmächtig sichtbar machen. Dadurch erhält die öffentliche Meinung bisweilen verfassungsrechtliche Schlagseite. Und so bleibt dem Verfassungsjuristen nur die Möglichkeit, in Wort und Schrift auf eine drohende „Überlastung des Freiheitssystems“ hinzuweisen. Die nun geplante Änderung des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) bietet dazu einmal mehr Anlass.

Die geplante „Notbremse“ im Infektionsschutzgesetz

Die Bundesregierung hat den sie tragenden Bundestagsfraktionen „Formulierungshilfen“ übermittelt, damit der Gesetzentwurf aus der Mitte des Bundestags eingebracht werden kann. Durch einen neuen § 28b IfSG soll eine bundesweit einheitliche „Notbremse“ verankert werden: Gemäß seines Absatzes 1 Nr. 2 gilt ab einem Inzidenzwert von 100 pro 100.000 Einwohner eines Landkreises an drei aufeinanderfolgenden Tagen eine Ausgangssperre von 21 Uhr bis 5 Uhr des Folgetages; Ausnahmen hiervon bestehen unter anderem bei medizinischen Notfällen, für bestimmte Berufstätigkeiten sowie bei „ähnlich gewichtigen und unabweisbaren Gründen“. Mit dieser Änderung würde der bisherige Regelungsansatz des § 28a IfSG, den Ländern ab bestimmten Inzidenzwerten einen Spielraum zum Erlass verschiedener Maßnahmen zu eröffnen, kassiert werden.

Das beabsichtige Gesetzgebungsverfahren, welches die Zustimmungspflicht des Bundesrates umgehen soll, sowie die materielle „Entmachtung“ der Länder böten genügend Stoff für Reflexionen; besonders die inflationäre Kritik am bundesstaatlichen „Flickenteppich“ wirft die Frage auf, ob vielen Entscheidungsträgern und Kommentatoren die historische Bedeutung, die demokratietheoretischen Vorzüge und schließlich die (in Art. 79 Abs. 3 GG normierte) verfassungsrechtliche Unverzichtbarkeit des Föderalismus vollumfänglich bewusst sind. Unabhängig von diesen staatsorganisationsrechtlichen Aspekten gilt es aber, gesetzliche Maßnahmen wie die vorgesehene Ausgangssperre vor allem am Maßstab der Grundrechte zu bewerten.

Bislang sind Ausgangssperren lediglich in Corona-Verordnungen der Länder oder auf Basis dessen per kommunaler Allgemeinverfügung verhängt worden. Bei der Überprüfung der Regelungen in zahlreichen verwaltungsgerichtlichen Eilverfahren zeichnet die Rechtsprechung keine eindeutige Linie: Während beispielsweise der VGH Baden-Württemberg oder das OVG Niedersachsen Ausgangssperren außer Kraft setzten, blieben Eilanträge unter anderem vor dem Bayerischen VGH, dem  VG Hamburg oder dem VG Koblenz erfolglos. Grund für die heterogene Entscheidungspraxis sind vor allem unterschiedliche Auffassungen zu Erforderlichkeit und Angemessenheit der Maßnahme. Die Argumente der Gerichte können daher auch in die Bewertung einer (bundes-)gesetzlichen Ausgangssperre einfließen.

Mehr Schaden als Nutzen?

Die geplante Ausgangssperre greift in die Allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) ein, welche auch die Bewegungsfreiheit schützt. Daneben kann auch das Freizügigkeitsrecht (Art. 11 Abs. 1 GG) betroffen sein, welches die freie Wahl des Aufenthaltsortes von gewisser Dauer und Bedeutung schützt. Der Eingriff verfolgt den legitimen Zweck des Gesundheits- und Lebensschutzes. Allerdings kann der Zweck nicht auf die Verhinderung jeder einzelnen Erkrankung gerichtet sein: Dies überforderte die staatliche Gewalt und ließe zugleich die Eigenverantwortlichkeit der Bürger für eine möglichst gesundheitsschonende Lebensgestaltung außer Acht. Vielmehr ist der Zweck staatlicher Pandemiebekämpfung dahingehend konkretisiert, die Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems zu gewährleisten. Dazu ist insbesondere einer drohenden Überlastung der Krankenhauskapazitäten vorzubeugen.

Zweifelhaft ist bereits, ob eine Ausgangssperre zur Erreichung dieses Zwecks geeignet ist: Sie zwingt zum Aufenthalt in geschlossenen Räumen und verhindert den Aufenthalt im Freien. Dabei haben Aerosolforscher jüngst noch einmal darauf hingewiesen, dass Infektionen hauptsächlich in Räumen stattfinden, hingegen bei vielen Aktivitäten im Freien kein (signifikantes) Infektionsrisiko bestehe. Zwar lässt es das BVerfG für die Bejahung der Geeignetheit ausreichen, wenn eine Maßnahme in irgendeiner Weise die Zweckerreichung fördert. Vorliegend drängt sich aber die Frage auf, ob eine Ausgangssperre – nach einer Gesamtsaldierung aller von ihr ausgehenden positiven wie negativen Effekte – überhaupt von Nutzen ist oder von ihr nicht vielmehr Schaden ausgeht. Jedenfalls setzt sich der Gesetzgeber mit der geplanten Regelung bereits an dieser Stelle enormem Rechtfertigungsdruck aus.

Ohne Vollzugserleichterung keine Erforderlichkeit

Bei der Beurteilung der Erforderlichkeit ist dem Gesetzgeber eine gewisse Einschätzungsprärogative zuzugestehen, die aber eine gerichtliche Kontrolle nicht ausschließt. Das betrifft besonders die Beurteilung der Gleichgeeignetheit milderer Mittel.

Das OVG Niedersachsen hielt jüngst die von der Region Hannover verhängte Ausgangssperre für nicht erforderlich: Diese habe nicht ansatzweise dargelegt, weshalb eine allgemeine Ausgangssperre notwendig sei, um Vollzugsdefizite bei milderen Maßnahmen wie Kontaktbeschränkungen oder Betretungsverboten im öffentlichen Raum zu beheben. Zutreffend prüft das Gericht, ob mangelnde Rechtsdurchsetzbarkeit bei milderen Maßnahmen ein plausibles Argument gegen ihre Gleichgeeignetheit ist. Die Darlegungslast liegt diesbezüglich beim Staat. Und er erfüllt sie nicht, wenn er eine allgemeine Ausgangsbeschränkung pauschal für besser durchsetzbar einstuft: Schließlich muss auch die Einhaltung einer allgemeinen Ausgangssperre flächendeckend kontrolliert und gegebenenfalls durchgesetzt werden. Besonders wenn die Regelung eine Reihe von Ausnahmen vorsieht, wird ihr Vollzug beträchtlich erschwert. Sie zwingt nämlich die Vollzugskräfte dazu, jede auf offener Straße angetroffene Person zu kontrollieren und zu überprüfen, ob ein Ausnahmegrund vorliegt.

Die geplante Ausgangssperre des § 28b Abs. 1 Nr. 2 IfSG scheitert hier an ihrer fehlenden Flexibilität. Sie lässt die Rechtsfolge bereits bei Erreichen des Inzidenzwertes eintreten. Eine situationsabhängige Bewertung der Erforderlichkeit ist mangels Ermessensspielräumen der Exekutive vor Ort nicht mehr möglich.

Politiker, die auf Inzidenzwerte starren

Auch die Prüfung der Angemessenheit fällt zu Lasten der geplanten Regelung aus. Dabei ist dem Grundrechtseingriff zunächst eine sehr hohe Intensität zu attestieren: Eine allgemeine Ausgangssperre untersagt bzw. sanktioniert für einen langen Tageszeitraum nahezu sämtliche Aktivitäten außerhalb der Wohnung. Zwar ist die Nacht üblicherweise kein Aktivitätsschwerpunkt des Tages, für den Abendzeitraum trifft dies aber – besonders in Frühlings- und Sommermonaten – sehr wohl zu, zumal es für Berufstätige meist die einzige Tageszeit zur freien Verfügung ist. Einkaufen, Sport, Spazierengehen oder das Treffen von Freunden (im Rahmen von Kontaktbeschränkungsregeln) ist nach 21 Uhr nicht mehr möglich. Damit werden pauschal auch zahlreiche Aktivitäten unterbunden, die keinerlei Infektionsrisiko aufweisen.

Erschwerend tritt hinzu, dass die Regelung – von den wenigen und sehr restriktiv ausgestalteten Ausnahmefällen einmal abgesehen – für sämtliche Einwohner eines Landkreises gilt. Erfasst werden somit auch Personen, die – etwa aufgrund bereits erfolgter Impfung – kein (signifikantes) Infektionsrisiko aufweisen oder die – etwa ausweislich eines tagesaktuellen Schnelltestergebnisses – nicht infektiös sind. Die geplante Ausgangssperre weist daher eine beträchtliche „Streubreite“ auf: Sie gilt für viele Bürger unabhängig von der „Gefährlichkeit“ ihrer Person oder ihrer ausgeübten Tätigkeiten. Solche Streubreiten erhöhen die Eingriffsintensität zusätzlich, wie das BVerfG in anderem Zusammenhang ausgeführt hat (vgl. etwa den Rasterfahndungsbeschluss, Rn. 116 ff.).

Das Gewicht dieser Eingriffsintensität vermag die Verfolgung des legitimen Zwecks nicht aufzuwiegen: Die geplante Regelung stellt auf der Tatbestandsebene einzig auf das Erreichen der 100er-Inzidenz ab. Dieser Wert stellt jedoch keinen aussagekräftigen Indikator für eine drohende Überlastung des Gesundheitssystems dar. Hierfür ist nämlich weniger die Anzahl von Infektionen entscheidend, sondern vielmehr die Anzahl von ernsthaften Erkrankungen. Da COVID-19-Infektionen in der Mehrzahl asymptomatisch verlaufen, müsste der Tatbestand zumindest weitere Faktoren wie die konkrete Situation in den Krankenhäusern oder die Impfquote im jeweiligen Landkreis beinhalten, um verlässlich Auskunft über die zu erwartende Auslastung des Gesundheitssystems zu geben. Nicht näher begründen lässt sich auch die Festlegung auf eine Inzidenz von 100, da die fortschreitende Impfung (besonders von Risikopersonen) die im bisherigen Pandemieverlauf festgestellten Relationen zwischen Inzidenzwert und Krankenhausauslastung obsolet macht.

Die Fokussierung auf ein einziges Tatbestandsmerkmal ohne die Möglichkeit einer flexiblen Anpassung an regionale Besonderheiten führt geradewegs in die Verfassungswidrigkeit von Maßnahmen wie der geplanten Ausgangssperre. Und sie zeigt: Selbst nach mehr als einem Jahr der Pandemie stehen die Bundeskanzlerin und ihr Kabinett noch immer unter dem wirkmächtigen Eindruck von (bloßen) Zahlen und Graphiken. Die Parlamentarier sollten sich dagegen in den nun anstehenden Beratungen auf die Wirkmächtigkeit der Worte des Grundgesetzes besinnen.

 

Zitiervorschlag: Frederik Ferreau, Ausgebremste Grundrechte – Die geplante Ausgangssperre im Infektionsschutzgesetz, JuWissBlog Nr. 31/2021 v. 14.04.2021, https://www.juwiss.de/31-2021/.

Creative Commons Lizenzvertrag
Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung – Nicht kommerziell – Keine Bearbeitungen 4.0 International Lizenz.


Viewing all articles
Browse latest Browse all 2369