Die sogenannten „Klimakleber“ der Letzten Generation halten die Gesellschaft mit ihren Blockaden weiter in Atem. In der Debatte über die strafrechtliche Bedeutung neigt die mediale Berichterstattung wie auch die öffentlichkeitswirksame Debatte zu einer Relativierung und Aushöhlung des Notwehrrechts. Eine Relativierung des „schneidigen“ Notwehrrechts im Rahmen von Klimablockaden ist jedoch nicht hinnehmbar, will man nicht § 32 StGB selbst antasten.
Das viral gegangene Video eines Mannes, der einen Demonstranten der Letzten Generation bei einer Sitzblockade von der Straße zerrte und diesem anschließend in den Bauch trat, befeuerte erneut die Debatte über die Reichweite des Notwehrrechts in den sozialen Medien und führte einmal mehr zu rechtswissenschaftlichen Betrachtungen etwa von Ronen Steinke in der Süddeutschen Zeitung. Der Duktus ist dabei wie folgt gesetzt: Aus Sicht der Staatsanwaltschaften bestünde „kein Zweifel, dass ein solches Verhalten von Autofahrern in der Regel illegal“ sei. „Zeitweise“ hätten Wissenschaftler „unter großem medialem [sic!] Echo das Gegenteil“ argumentiert. Mit Verweis auf eine Stellungnahme der Berliner Staatsanwaltschaft wird suggeriert, dass Bürger das Recht nicht in die eigene Hand nehmen dürften, „wenn mit einem zeitnahen Eintreffen der Polizei zu rechnen ist“; ein „Ablösen der festgeklebten Blockierer ohne Verletzungen wird in aller Regel nur der Polizei möglich sein“.
Der (wohl strafbare) Tritt des Kraftfahrers soll hier außer Betracht bleiben, aber bei den Bürgern verfestigt sich durch solche pauschalen Äußerungen von Behörden und medial rezipierten Auffassungen von Juristen der Eindruck, dass das Notwehrrecht unter einem Vorbehalt der Verfügbarkeit „zeitnaher“ polizeilicher Hilfeleistung oder der Verhältnismäßigkeit der Abwehrmittel stünde. Nicht unerwähnt bleiben sollten in diesem Kontext die gleichzeitigen juristischen Versuche, den Tatbestand der Nötigung erfüllende Verhalten der Blockierer im Rahmen der Verwerflichkeitsprüfung oder eines Notstandes zu rechtfertigen oder mit philosophischen Bezügen auf Habermas gar die Täter zu den eigentlichen Helden zu erklären, weil sie sie sich der Strafe stellten und nicht darauf spekulierten, „unerkannt mit illegalen Vorteilen davonzukommen“ (als ob Heimlichkeit eine Rolle spielte und kriminelle Energie erst begründete!).
Dies wirft die die Frage auf, ob hier nicht einer Relativierung des Notwehrrechts das Wort geredet wird und dem Bürger eine vermeintliche Unsicherheit der Rechtslage suggeriert wird, welche diesen letztlich zum Verzicht auf eine Verteidigung bewegt. Das wäre ein besorgniserregender, mit dem Zweck des § 32 StGB nicht in Einklang zu bringender Zustand.
Das Notwehrrecht in Deutschland ist „schneidig“. Es folgt dem Prinzip, dass das Recht dem Unrecht nicht zu weichen braucht. Auf die Verhältnismäßigkeit des gewählten Notwehrmittels kommt es daher nicht an. Eine Einschränkung des Notwehrrechts, wenn polizeiliche Hilfe „zeitnah“ verfügbar ist, ist kritisch zu sehen. Unzweifelhaft ist das Notwehrrecht in seiner Ausgestaltung eine auffällige Durchbrechung des staatlichen Gewaltmonopols (Fischer, StGB, § 32 Rn. 35). Dieses strukturelle Argument darf aber nicht dazu verleiten, die gesetzgeberische Wertung des § 32 StGB zu relativieren. Denn was soll der Bürger unter „zeitnah“ verstehen? Minuten? Eine Viertelstunde? Eine halbe Stunde? Dies ergibt sich weder aus den Ausführungen der Staatsanwaltschaft noch aus dem Gesetz selbst; auch eine zeitweise Duldungspflicht gegenüber dem Unrecht ist mit dem Grundprinzip der Notwehr unvereinbar (so schon RGSt 32, 391 (392f.); Erb, in: MK StGB, § 32 Rn. 141; Rönnau/Hohn, in: LK StGB, § 32 Rn. 184). Denn wenn Hilfe nicht präsent ist und erst herbeigeholt werden muss, dürfte der Angreifer zunächst die Oberhand behalten (Erb, a.a.O.; Rönnau/Hohn, a.a.O.). Um der Rechtssicherheit einerseits und der gesetzgeberischen Wertung andererseits zu genügen, ist die Wortwahl „zeitnah“ völlig unhilfreich, einmal abgesehen davon, dass die fachgerechte Ablösung vom Straßenbelag bisweilen Stunden dauert und sich der Angriff somit trotz polizeilicher Hilfeleistung verfestigt und fortwirkt. Hierbei ist auch zu beachten, dass bei Verwendung von Klebemitteln wie Sekundenkleber oder schnellbindendem Beton selbst eine kurze Verzögerung der polizeilichen Hilfe dazu führt, dass die staatliche Gefahrenabwehr nicht dieselbe Wirkung entfaltet wie die private, sodass der Verweis auf die Subsidiarität hier auch deswegen fehlgeht (Erb, in: MK StGB, § 32 Rn. 145ff.; Rönnau/Hohn, in: LK StGB, § 32 Rn. 185f.).
Die Aussage, dass ein verletzungsfreies Ablösen der Personen nur durch die Polizei möglich sei, sorgt ebenfalls für Irritation. Es kommt eben im Rahmen des Notwehrrechts gar nicht darauf an, ob die Demonstranten ohne Verletzungen abgelöst werden können, da sich eine Abwägung mit dieser Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit gerade verbietet und eine krass unverhältnismäßige Abwehr nicht vorliegt. Um es plakativ mit Thomas Fischer auszudrücken: „Wer mit Gewalt unbeteiligte Dritte stundenlang daran hindern möchte sich fortzubewegen, muss den Verlust einer mehrere Quadratzentimeter großen Hautschicht hinnehmen, wenn dies zur Gegenwehr (Befreiung) erforderlich ist.“
Auch der Einwand, dass aufseiten der Autofahrer lediglich die Fortbewegungsfreiheit beeinträchtigt sei, auf der anderen Seite jedoch die körperliche Unversehrtheit und die Versammlungsfreiheit, irritiert. Denn dies suggeriert eine Abwägung, die § 32 StGB gerade ausschließt. Die hier wohl in Betracht gezogene Fallgruppe des krassen (!) Missverhältnisses (Fischer, StGB, § 32 Rn. 39) im Rahmen der Gebotenheitsprüfung ist ersichtlich nicht gegeben; denn die in den Ausführungen Steinkes geradezu relativierte Fortbewegungsfreiheit nach Art. 2 II 2 GG ist nach eindeutiger Wertung des Verfassungsgebers sogar „unverletzlich“.
Der sich in den o.g. Ausführungen widerspiegelnde Geist suggeriert also die Unsicherheit einer Rechtslage, wo eigentlich keine Unsicherheit besteht. Will der Staat ein scharfes staatliches Gewaltmonopol, so müsste er eine Verhältnismäßigkeitsprüfung in § 32 StGB aufnehmen. Solange es aber bei der aktuellen Rechtslage verbleibt, ist es höchst irritierend, wenn Juristen den Bürger verunsichern und gleichsam von einer Wahrnehmung eines ihm zustehenden, gewichtigen Abwehrrechts abhalten mögen. Es untergräbt im Übrigen auch das Vertrauen der Opfer in den Staat, wenn ihnen bereits vorab eine völlig undifferenzierte Strafverfolgung ihrer Verteidigungshandlungen in Aussicht gestellt wird.
Zuletzt lässt dies die Frage aufkommen, ob hier bisweilen nicht andere Wertungen eine Rolle spielen als juristische. Der Umstand, dass sich der Protest „friedlich“ und „gewaltlos“ (übrigens entgegen der gängigen Auslegung des Gewaltbegriffs im Rahmen des § 240 StGB! (Fischer, StGB, § 240 Rn. 14f.)) für ein „gutes“ Ziel einsetzt, ändert schließlich nichts an der objektiv zu beurteilenden Strafbarkeit dieses Verhaltens und der Notwehrlage für die Blockierten. Man möge in diesem Kontext doch einmal hinterfragen, ob das für nicht abwehrfähig gehaltene Verhalten der „Klimakleber“ bei nur leicht veränderten Umständen ebensolches Verständnis und Schutzbemühen hervorriefe: Etwa, wenn Rechtsextreme Zugänge zu Flüchtlingsunterkünften blockierten.
Das Notwehrrecht muss „schneidig“ bleiben, wenn es seine Wirksamkeit behalten soll. Jeglichen Relativierungen durch „zeitnahe“ obrigkeitliche Hilfe oder im Wege von Rechtsgutabwägungen durch die Hintertür sollte daher eine klare Absage erteilt werden. Hier gilt die bisweilen undifferenziert verwendete Forderung nach „Opferschutz vor Täterschutz“ uneingeschränkt.
Zitiervorschlag: Wüstenberg, Jendrik, Wider die Relativierung des scharfen Notwehrrechts, JuWissBlog Nr. 13/2023 v. 11.04.2023, https://www.juwiss.de/13-2023/.
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