Quantcast
Channel: JuWissBlog
Viewing all articles
Browse latest Browse all 2369

Ehe für alle – auf Tunesisch

$
0
0

von JULIUS DIHSTELHOFF und MATTHIAS FRIEHE

Foto Julius DihstelhoffFrieheMuslimische Frauen dürfen in Tunesien künftig auch einen Nicht-Muslim heiraten. Mit dieser Meldung schafften es Mitte September spannende innenpolitische Entwicklungen im Kernland des „Arabischen Frühlings“ in die deutschen Medien, die sonst hierzulande kaum wahrgenommen werden. Diese kleine Revolution im tunesischen Familienrecht zeigt zweierlei: Erstens, wie weit das islamisch geprägte Familienrecht von westlichen Rechtstraditionen entfernt ist. Zweitens, dass eine Emanzipation muslimisch geprägter Staaten von den umstrittenen Traditionen des islamischen Rechts durchaus möglich ist.

Das frühere Eheverbot der Konfessionsverschiedenheit ist dem religiös-weltanschaulich neutralen Staat westlicher Prägung mit seiner säkularen Rechtsordnung heute fremd geworden.

Religiöses vs. säkulares Familienrecht

Hingegen wird in der islamisch geprägten Welt Recht noch vielfach religiös legitimiert, wobei von der Orientierung an traditionellen Rechtsschulen (madhahib) bis hin zu Neuinterpretationen im Kontext der Moderne unterschiedliche Ausprägungen bestehen. Vor allem das islamische Erb- und Familienrecht wird in den meisten überwiegend muslimisch geprägten Ländern rezipiert. Hierzu gehört das aus dem Koran (Sure 60:10) abgeleitete Verbot, dass eine muslimische Frau einen Nicht-Muslim heiratet. In diesem Fall besteht oftmals der einzige Ausweg zur Heirat in der schriftlich bestätigten Konvertierung des nicht-muslimischen Mannes zum Islam. Umgekehrt besteht unter muslimischen Rechtsgelehrten weitgehend Einigkeit, dass muslimische Männer Jüdinnen und Christinnen heiraten dürfen (vgl. dazu Sure 5:5). Das Verbot für Muslime, einen Nicht-Muslim zu heiraten, fügt sich in eine Reihe offener Diskriminierungen der Frau durch das islamische Familienrecht. Die wohl bekannteste Ungleichbehandlung von Männern und Frauen liegt darin, dass zwar ein Mann mehrere Frauen, niemals aber eine Frau mehrere Männer ehelichen darf – auch, wenn die Vielehe in den islamisch geprägten Ländern nicht alltäglich ist. Für die islamische Praxis sehr bedeutsam ist, dass der Mann – ohne gerichtliches Verfahren – im Wege der Privatscheidung seine Frau verstoßen kann (talaq), während die Ehefrau eine Scheidung gerichtlich erzwingen muss. Frauen werden darüber hinaus im islamischen Erbrecht gegenüber männlichen Nachkommen schlechter gestellt.

Die Ungleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich der Möglichkeit, einen Nicht-Muslim zu heiraten, hängt auch mit der Erwartung im islamischen Rechtskreis zusammen, dass die Kinder jeweils in der Religion des Mannes erzogen werden. Die islamische Mission soll sich dadurch vollziehen, dass Kinder erlaubter islamischer Ehen stets nur Muslime sein können. Mit der Strategie, in religionsverschiedenen Ehen die Religion der Kinder für sich zu gewinnen, steht der Islam nicht alleine da: Das katholische Eherecht stellt konfessionsverschiedene Ehen unter einen speziellen Erlaubnisvorbehalt (c. 1124 CIC). Bis heute ist es üblich, dass eine solche Erlaubnis nur dann erteilt wird, wenn die Verlobten versprechen, die Kinder katholisch zu erziehen.

Dagegen sichert eine säkulare Rechtsordnung die Eheschließungs- und die Religionsfreiheit. Als „Heimstatt aller Staatsbürger“ (BVerfGE 19, 206 [216]) stellt der Staat ein säkulares Zivilrecht für alle Bereiche des bürgerlichen Lebens zur Verfügung, unabhängig von religiösen Vorgaben. Mit der Eherechtsreform hat sich dieses Verständnis jetzt auch in Tunesien durchgesetzt.

Triumph des zivilen Staates in Tunesien

Von Tunesien ging im Dezember 2010 der so genannte „Arabische Frühling“ aus. Dieses Schlagwort gibt nur unzureichend die tiefgreifenden Verschiebungen politischer, rechtlicher, sozialer und wirtschaftlicher Ordnungen wieder, die in den Protestbewegungen in fast allen arabischen Ländern Ende 2010 und 2011 aufgebrochen sind. In den meisten dieser Länder sind die Ergebnisse bisher ernüchternd oder sogar erschreckend. Entweder hat sich wenig verändert (z.B. Algerien, Marokko), oder die Länder erleben eine Re-Autoritarisierung (z.B. Ägypten) bzw. sind im Bürgerkriegschaos versunken (z.B. Libyen, Syrien).

In Tunesien wurde hingegen ein bemerkenswerter Demokratisierungsprozess in Gang gesetzt, der zunehmend ein partizipativeres Gesellschaftsmodell ermöglicht. Nach einem dreijährigen verfassungsgebenden Prozess wurde im Januar 2014 ein neues, demokratisch legitimiertes und säkulares Verfassungssystem etabliert. Innerhalb der Tunesischen Verfassung (TV) finden sich nur sehr wenige Islambezüge (hier die französische bzw. deutsche Fassung): Die Präambel betont die Bedeutung des Islams für das tunesische Volk; Art. 1 TV erklärt den Islam zur Religion Tunesiens und Art. 74 Abs. 1 TV sieht vor, dass sich nur Muslime um das Amt des Staatspräsidenten bewerben können. Entscheidend ist aber, was sich gerade nicht in der Verfassung findet: So wird auf jedweden Bezug zum islamischen Recht (sharia) in der tunesischen Verfassung verzichtet. Des Weiteren gibt es in Tunesien, anders als in anderen islamisch geprägten Staaten wie dem Iran oder Ägypten, kein Organ, das staatliche Gesetze auf ihre Übereinstimmung mit dem Islam hin überprüft. Stattdessen wird in Tunesien die Religionsfreiheit von der Verfassung geschützt (Art. 6 TV). Anders als etwa in der Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam stehen die Grundrechte der tunesischen Verfassung gerade nicht unter dem Vorbehalt einer islamkonformen Interpretation. Die tunesische Verfassung etabliert überdies ein Verfassungsgericht, das aufgrund einer Richtervorlage auch über die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen entscheiden kann (Art. 120 Abs. 1 Nr. 4 TV). In Tunesien wird so gerade in Fragen des zivilen Lebens keine Letztentscheidung der Religion, sondern eine Letztentscheidung des grundrechtsgebundenen Staates institutionell abgesichert.

Innenpolitische Hintergründe der Reform

Dass Tunesierinnen keine Muslime heiraten durften, war nicht gesetzlich geregelt, sondern beruhte auf einer Verwaltungsvorschrift (circulaire no 216 vom 5.11.1973, Übersicht zur bisherigen Rechtslage), die nach 44 Jahren aufgehoben wurde. Vorangegangen waren zivilgesellschaftliche Proteste gegen das Heiratsverbot. Immer wieder wurde dabei auch ins Feld geführt, dass diese Einschränkung offensichtlich verfassungswidrig sei und den Gleichheitssatz (Art. 21 TV) und die Religionsfreiheit (Art. 6 TV) verletze. Schlussendlich nahm die Ehereform durch eine Rede des derzeitigen Präsidenten Béji Caïd Essebsi im August 2017 anlässlich der Festlichkeiten zum nationalen Feiertag „Tag der Frau und der Familie“ Fahrt auf. Darin enthalten waren zwei historische Forderungen bezüglich des tunesischen Familienrechts: Neben der Ehereform appellierte der Präsident für eine Reform des tunesischen Erbschaftsgesetzes. Mittlerweile wurde hierzu eine parlamentarische Kommission beauftragt, um einen neuen Gesetzesvorschlag zu erarbeiten. Die benötigte absolute Mehrheit im tunesischen Parlament ist allerdings bisher (noch) nicht absehbar.

Die Ehereform sowie die geplante Erbschaftsreform sind Bestandteile einer größeren Debatte um identitäre Grundfragen in dem kleinen nordafrikanischen Land. Diese Debatte reicht über die Regierungselite Tunesiens hinaus in die tunesische Gesamtgesellschaft hinein. Ihr Kernthema ist das Spannungsverhältnis zwischen religiösen Traditionen einerseits und Fortschrittlichkeit bei Frauenrechten bzw. Geschlechtergerechtigkeit andererseits. Allerdings ist mit der „Ehe für alle – auf Tunesisch“ keinerlei Gleichstellung homosexueller Paare gemeint. Diese unterliegt nach wie vor einem – religiös wie kulturell begründeten – öffentlichen Tabu in der tunesischen Mehrheitsgesellschaft.

Mit seinem Vorstoß pflegt Präsident Essebsi sein Image als Modernisierer Tunesiens, vor allem hinsichtlich staatlich garantierter Frauenrechte. Damit eifert er der politischen Ausrichtung des ersten tunesischen Staatspräsidenten Habib Bourguiba (1957-1987) nach. Unter Bourguiba hatten tunesische Frauen einen Grad an Freiheit und Gleichberechtigung erlangt, der in den islamisch geprägten Ländern zu Zeiten der tunesischen Unabhängigkeit im Jahr 1956 ungekannt war. Mit einem Rechtekatalog des „Code du Statut personnel“ (CSP) schuf Bourguiba das zu jener Zeit modernste Familienrecht in der arabischen Welt:  Polygamieverbot, Legalisierung von Scheidungen, Verpflichtung, dass beide Seiten in die Hochzeit einwilligen, Festsetzung des Heiratsmindestalters auf 17 Jahre sowie Modifizierungen im Erbrecht. Präsident Essebsi versucht, sich als Sprachrohre der säkularisierten Modernisierungselite zu profilieren und sich von der Ennahda-Partei abzugrenzen. Letztere verfügt über die größte Massenbasis in Tunesien und steht für das islamisch-konservative Bürgertum. Die Debatte gab damit den Auftakt für den Wahlkampf der ursprünglich für Dezember 2017 vorgesehenen, jetzt auf März 2018 verschobenen Kommunalwahlen.

Ausblick

Alles in allem verdeutlicht die aktuelle Ehereform einmal mehr, dass Tunesien seiner Vorreiterrolle unter den islamisch geprägten Staaten für staatlich garantierte Frauenrechte nachkommt. Daher wäre es eine Fehlwahrnehmung, Tunesien im öffentlichen Diskurs hierzulande auf ein – übrigens zahlenmäßig wenig bedeutendes – Herkunftsland für Flüchtlinge zu reduzieren: Im Zentrum unserer Aufmerksamkeit sollte vielmehr die Fortschrittlichkeit des kleinen nordafrikanischen Landes stehen, dem es peu à peu gelingt, verkrustete Rechtsstrukturen zu durchbrechen. Die tunesische Ehereform trägt zur Konsolidierung zwischen Religion und Verfassungsprinzipien in Tunesien bei. Diese Entwicklung verdient unsere Aufmerksamkeit und unseren Respekt!


Viewing all articles
Browse latest Browse all 2369